So können Sie mitmachen!

Der zivilisationsgeschädigte Sanierungsbaum

Über ein politisches Wandbild der Gruppe Ratgeb in Moabit von 1979

Versteckt hinter Bäumen und etwas verblasst befindet sich in der Pritzwalker Straße 16 in Moabit an der Seitenwand eines Hauses ein Wandbild. Auf ihm ist eine historische Stadtlandschaft zu sehen, die von einem merkwürdigen Baum dominiert wird. Statt eine Werbebotschaft zu verkünden, wie viele seiner aktuellen Kollegen, oder im grellen Graffitistyle einen Schriftzug oder ein abstraktes Muster darzustellen, ist hier erst einmal unklar, was für eine Botschaft vermittelt werden soll. Es bedarf ein wenig Recherche, um herauszufinden, was es mit dem Wandbild auf sich hat. Das hat auch damit zu tun, dass es schon so lange hier ist: nämlich seit 1979! Wenn man sich überlegt, wie viele Relikte aus der DDR seit der Wende verschwunden sind, ist es wirklich erstaunlich, dass sich dieses Wandbild so lange halten konnte. Manchmal muss halt erst jemand von weit herkommen, um den Blick auf das Naheliegende zu werfen – wie in diesem Fall die US-Amerikanerin Emily Moore, die ihre Abschlussarbeit an der University Boston/Wellesley über die Künstlergruppe Ratgeb geschrieben hat. Bei einer Veranstaltung im Friedrichshain-Kreuzberg Museum stellt sie ihre Recherchen vor und erklärt, dass es sich um das erste Wandbild der Künstlergruppe handelt und um das zweite Wandgemälde überhaupt, das in West-Berlin seit der Wanddekorationskunst der Belle Epoque entstanden ist.

Das Wandbild in der Pritzwalker Straße 16, Foto: Maike Brülls

Doch bevor die Hintergründe erläutert werden, soll zunächst das Bild genauer angeschaut werden. Im Mittelpunkt befindet sich eine scheinbar idyllische Landschaft, die am unteren Rand von einem Fluss (der Spree) begrenzt wird, an dessen Ufer ein Boot vertäut ist. Auf der linken Seite sind Wiesen und Bäume zu sehen, im Hintergrund erkennt man Kirchtürme und Schornsteine. Am rechten Bildrand befindet sich ein großes Gebäude in klassizistischem Stil, bei dem es sich um den zerstörten Lehrter Bahnhof handelt. „In dieser Darstellung von Moabit sind Elemente aus verschiedenen Jahrzehnten verschmolzen, um eine erfundene, wenn auch geschichtlich basierte Landschaft abzubilden“, schreibt Emily Moore in ihrer Arbeit [1]. Dazu passt der Titel des Wandbildes: Der zivilisationsgeschädigte Sanierungsbaum durchstößt die Moabiter Geschichtslandschaft.    

Sanierungsbaum? Zivilisationsgeschädigt? Die Ratgeb-Künstler wollten mit dem Motiv eines Baumes „auf Zivilisationsschäden bei der Stadterneuerung aufmerksam machen”, heißt es bei Moore. Dazu passt, dass der Baum ungezähmt aussieht, nicht nur einen Stamm und eine Krone hat, sondern sich aus mehreren Bäumen zusammenzusetzen scheint und zudem von Schlingpflanzen umrankt wird.

Emily Moore setzt das Bild in den Kontext breiterer sozialer und politischer Entwicklungen, die West-Berlin in diesen Jahren dominierten. Sie schlägt zudem einen weiten historischen Bogen vom Kriegsende 1945 bis heute. So waren 1945 von den 1939 in Berlin registrierten 1.502.383 Wohnungen noch 976.500 intakt. Die Lücken im Stadtbild zeugen, auch wenn sie weniger werden, bis heute von diesen Zerstörungen. Sie boten und bieten Platz für großflächige Wandmalereien. Moore erwähnt zudem die Kahlschlagsanierungen der 1950er und 1960er Jahre, die darauf abzielten, „die Trümmerlandschaften der zerstörten Städte der Bundesrepublik zu räumen und die Städte auf den Wiederaufbau vorzubereiten“, und die als Reaktion darauf entstandene Haus? und Instandbesetzer*innenbewegung der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. War diese anfangs in klarer Opposition zu staatlichen Maßnahmen entstanden, änderte sich dies 1979 mit dem Beginn der Internationalen Bauausstellung (IBA), „die danach strebte, dem Beispiel der Instandbesetzer zu folgen, um nachhaltigere und bodenständige Sanierungsmaßnahmen in die offiziellen Stadterneuerungsprogramme einzugliedern.“

Die Gruppe Ratgeb. Screenshot aus: „Die Künstlergruppe Ratgeb. Die Verteidigung der Kunst“ von Emily Moore, 2009

Die IBA fiel mit der Ausführung des ersten Wandbilds der Künstlergruppe Ratgeb zusammen, die sich zwei Jahre zuvor gegründet hatte. Es entstand auf einer elf Meter breiten und 20 Meter hohen Brandwand und wurde vom Land Berlin und dem Senator für Bau- und Wohnungswesen beauftragt und finanziert.

Da das 200 Quadratmeter große Wandbild unter starkem Zeitdruck ausgeführt werden musste, wie Moore in Gesprächen herausfand, gab es nicht ausreichend Zeit für die Künstler, Gespräche mit den Bewohner*innen zu führen, um ihre Vorstellungen in den Entwurf mit einzubeziehen, wie sie es sich gewünscht hätten, und wie sie es bei folgenden Aufträgen umgesetzt haben. Die Künstler haben stattdessen den Betroffenenrat des Sanierungsgebietes befragt, welche Motive im Wandbild erscheinen sollten. Dieses Gespräch überzeugte die Künstler davon, das Bild ortsbezogen zu gestalten und es mit der Geschichte Moabits zu verbinden. Einige Details gehen ebenfalls auf Anregungen von Anwohner*innen zurück: So befindet sich am rechten unteren Bildrand eine zusammengesackte Pinocchio-Puppe, „ein Zugeständnis an die Kinder, die zwischen den Mauern in einer unfreundlichen Atmosphäre leben müssen”. Leider ist die Puppe heute nicht mehr erkennbar, da der untere Teil des Bildes an vielen Stellen übersprüht wurde.

Bei der Veranstaltung im Museum sitzt neben Emily Moore Werner Brunner auf dem Podium, er ist Gründungsmitglied der Gruppe und hat zusammen mit Paul Blankenburg und Werner Steinbrecher das Wandbild in Moabit realisiert. Neben einer speziellen Farbe, die sie entwickelten und die ein Grund für die lange Haltbarkeit der Bilder ist, ist auch ihr partizipatives Verfahren ein Novum gewesen, da sie die Anwohner*innen oft in den Entwurfsprozess miteinbezogen. Einige ihrer Wandbilder lösten politische Debatten aus und konnten nicht realisiert werden, doch entstanden ca. elf weitere Wandbilder, die zum Teil heute noch existieren (Moore geht in ihrer Arbeit ausführlicher auf sechs Wandbilder ein, wie Auf der Geschichtsbühne Böhmisch Rixdorfs in der Richardstraße sowie Let’s go West – das sogenannte Easy Rider Wandbild in Kreuzberg auf einer Häuserfassade in der Waldemarstraße und das illegale Wandbild am Regenbogenhaus in Charlottenburg, das relativ rasch wieder entfernt wurde).

Werner Brunner, Screenshot aus „Die Künstlergruppe Ratgeb. Die Verteidigung der Kunst“ von Emily Moore, 2019

Zur Einführung wird ein Film von Emily Moore gezeigt, den sie bei ihrem Besuch des Ateliers von Werner Brunner in Schöneberg gedreht hat. Darin sagt Brunner: „Die Wandmalerei ist die öffentlichste, demokratischste und partizipativste Form von Kunst, mit der man öffentlich mit den Menschen, die in der Stadt wohnen, etwas machen konnte, womit sie dann 10, 20 [Jahre und länger!] leben mussten.“

Auch die Künstlerin Sonya Schönberger hat Werner Brunner im Januar 2019 interviewt und ihn zur Künstlergruppe Ratgeb befragt.[2] Weil das Gespräch hilfreiche Einblicke in die Künstlergruppe, ihre Entstehung und ihr Ende gibt, sei ausführlicher aus ihm zitiert:

Wer war die Künstlergruppe Ratgeb und wie seid ihr auf den Namen gekommen?

Werner Brunner: Die Künstlergruppe Ratgeb nannte sich nach Jörg Ratgeb, ein Zeitgenosse von Dürer, der gevierteilt wurde, von vier Pferden zerrissen, in Pforzheim. Das war so unser Ding. Und wir fünf waren bis 1985 zusammen, haben viele Wandbilder gemacht. Wir hatten ein Gemeinschaftsatelier und drei davon hatten sich auf Wandbilder spezialisiert und viele Aufträge gehabt. Das lief ziemlich gut. Wir waren bekannt, im Ausland mehr als hier. Die Kunstinstitutionen wollten hier von uns nicht viel wissen. Aber Holland, Frankreich, bis Chicago waren wir, bis nach Australien waren wir bekannt und haben ständig Atelierbesuche bekommen.

Wie lange habt ihr zusammen gearbeitet?

Wir haben uns 1985 getrennt, weil wir im Theater des Westens oben die Decke bemalt haben und da haben wir dann das erste Mal bemerkt, dass wir nicht mehr richtig kollektiv arbeiten können. Jeder hatte plötzlich seinen großen Ehrgeiz entwickelt. Ich mit großen Heizkörperpinseln und der andere mit dem kleinen Spitzpinsel. Und der dritte ist dann noch nachts hochgegangen und hat übermalt, wo er sich tagsüber nicht durchsetzen konnte. Und dann haben wir gesagt, so, jetzt muss jeder seinen eignen Weg gehen. Das war freundschaftlich und vernünftig.

Was war das damals für eine Stimmung in der Kunstszene?

In den achtziger Jahren war es radikaler, die Künstler haben mehr riskiert. Es gab viel mehr experimentelle Radikalität unter den Künstler. Unsere Künstlergruppe Ratgeb war in diesen ganzen Häuserkämpfen, Hausbesetzungen sehr eng verstrickt. Das war dann ein ganz anderer Kulturbereich. Also es war eine tolle Zeit, aber auch anstrengend, weil wir waren einfach Tag und Nacht unterwegs.

Wandbild der Gruppe Ratgeb in Moabit (Ausschnitt), Foto: Maike Brülls

[1] Emily Moore: Die Künstlergruppe Ratgeb: Die Kunst der Verteidigung des öffentlichen Raumes: Politische Wandbilder in West-Berlin 1979-89, Wellesley College Digital Scholarship and Archive, 2018. Sie ist unter https://repository.wellesley.edu/thesiscollection/554/ frei verfügbar. 

[2] Sonya Schönberger: Künstler/in lebenslang, in: von hundert, Nr. 33, September 2019, S. 52-55. Das Interview wurde leicht modifiziert und mit neuen Fragen versehen. Es kann hier nachgelesen werden.

Eine Fotostrecke mit weiteren Wandbildern von Werner Brunner in Neukölln findet sich auf bei 99% Urban.

Text: Anna-Lena Wenzel, Fotos: Maike Brülls und Screenshots aus dem Film von Emily Moore.

Wir bedanken uns für die Genehmigung der Zweitveröffentlichung.

Zuerst erschienen im Kultur-Mitte Magazin in der Reihe: Kunst im öffentlichen Raum

2 Kommentare auf "Der zivilisationsgeschädigte Sanierungsbaum"

  1. 1
    Nachbarin says:

    Vielen Dank für diesen Artikel, habe mich schon seit Jahren gefragt, welche Geschichte sich es hinter diesem leicht verblassten Wandbild gibt.
    Schaut Euch unbedingt auch den 15minütigen Film an – solche Bider aus dem Berlin der 1970er Jahre sind nicht oft zu sehen.

  2. 2
    Susanne says:

    Noch ein Wandbild der Gruppe Ratgeb – gemalt mit jugendlichen Strafgefangenen der JVA Plötzensee, aber nicht in Moabit, sondern Charlottenburg, Schloßstraße:
    https://www.tagesspiegel.de/kultur/kolumne-berliner-truffel-25-west-berliner-blick-auf-das-20-jahrhundert-9958686.html

Schreibe einen Kommentar

Beachte bitte die Netiquette!