Ich hatte eine Hütte am Hauptbahnhof
Im Freien — Mein Leben in Hütten
„Achtundzwanzig Jahre war Henry David Thoreau alt, als er sich 1845 in den Wäldern bei Concord am Walden-See eine Holzhütte zimmerte. Das hektisch-geschäftige Leben des einsetzenden Industriezeitalters in Amerika empfand er als oberflächlich, trivial und unbefriedigend.“ (Klappentext des dtv-Taschenbuchs, 7. Auflage März 2010)
150 Jahre später, ich war u.a. als Verlagskauffrau/Ethnologin Sachbearbeiterin bei einer entwicklungspolitischen Organisation, Setzerin und stellvertretende Redakteurin bei der „taz“, fand ich mich manchmal zu Fuß zur Redaktion gehend, nur um eine einzige Stunde am Tag für mich zu haben. Dabei war ich wohl eher eine mittelmäßige Journalistin, jedenfalls wurde ich eher selten enthusiastisch gelobt. Ich kündigte, auch weil mir mit 40 Jahren klar wurde, dass ich nur dieses eine Leben habe und dass ich nicht den Rest davon in geschlossenen Räumen verbringen wollte oder, wie Thoreau schrieb: „es wäre kein schlechter Gedanke, mitten in unserer Zivilisation ein einfaches Grenzerleben zu führen, nur um zu erfahren, was die notwendigsten Lebensbedürfnisse sind …“, denn die Fortschritte von Jahrhunderten haben die grundlegenden Gesetze der menschlichen Existenz nur wenig beeinflusst … Nahrung, Wohnung, Kleidung, Brennstoff.
Dieses Leben ohne Strom und fließend Wasser lebte ich 20 Jahre lang, allerdings in drei Hütten, im Winter in Portugal am Atlantik, im Sommer im Oderbruch und dazwischen in meinem Garten am Berliner Hauptbahnhof, „… um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben.“
Sigrid Bellack, im Sommer 2017, dem Jahr des 200. Geburtstages Thoreaus.
Ich hatte eine Hütte am Hauptbahnhof, in der Mitte von Berlin
Lebenslied — Berliner Szene
„Auf ihrem Platz in der Sonne hatte sie eine Weile auf mich gewartet. Sie schien ein klein wenig nervös zu sein. Auch das war neu. Ich hatte sie lange nicht gesehen. Aber nun war es, als sei ich vorhin weggegangen, um eben Brötchen und Honig zu holen.
In ihrem Garten hat sie inzwischen zwei Teiche angelegt, Seerosen wurzeln darin. Wir setzten uns auf eine Bank daneben. Sie schien kaum gealtert, aber dass sie an Kraft verloren hat, wurde bald deutlich. Bescheiden ist nun ihr Radius. Selbst wenn man ihn nicht mit den Reichweiten von früher vergleichen würde. Wegen der Weise, in der sie von den erheblichen Veränderungen erzählte, wegen der Art zu leben, an der sie trotz allem festhält, aber wohl auch, weil sie mich in der üppigen Vielfalt ihres Gartens empfing, erschien sie mir wie eine wilde, einzigartige Blume. Stark. Verletzlich.
„Gehend ist mir nie langweilig gewesen“, sagte sie einmal, als es um ihre Leidenschaft für ausgedehnte Wanderungen auf portugiesischen Stränden und im Oderbruch ging. Weit laufen kann sie nun nicht mehr, nicht lange Rad fahren, nicht unbeschwert tanzen. Vor allem aber, weil sie einfach kreativ ist und ein Leben lang war, fließt ihre Schöpferkraft jetzt in das Schönmachen von Kleidung.
Sie stellte mir einen Schal vor. Sie hatte ihn aus dem schwarzen Seidenkleid ihrer Großmutter gefertigt. Alles mit der Hand genäht und befestigt, obwohl ihr rechter Arm gefühllos ist und sie sich dauernd in die Finger sticht. „Nähen hält den Arm in Schwung“, sagte sie. Der Schal trägt Pflanzenranken und rote Rosenrosetten – eigenhändig angefertigt aus Filz. Mir wurde ein Kleid vorgestellt. Es wird bald Palmen tragen, einen Pfau ausführen, Giraffen die Stadt zeigen. Mir wurde ein Mantel präsentiert. Eine Filzerin hat ihn für sie gemacht. Als ob ein Baum durch die Straßen flaniert, so muss es aussehen, wenn sie ihn anhat. Und so ist es eigentlich auch: ein alleinstehender Baum, in dem ein unbeirrbarer Geist wohnt, singt seine Lieder nun in einer anderen Weise.“
Gunda Schwantje
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Meine Tulpen blühen Ende April noch nicht, aber es müsste jeden Moment losgehen. Wenn, ja wenn es denn mal regnen wollte. Böse Winde fegen über den Garten; obwohl die Sonne wärmt und sogar heiß ist, muss ich mich beim Verlassen des Gartens warm anziehen.
Ich bin wieder in die Laube eingezogen, nachdem ich mehrere Tage gebraucht habe, um sie vom Schmutz des vergangenen Jahres zu reinigen. Morgens ist es unvergleichlich. Niemand außer mir ist in der Kolonie; gestern schlug um 6 Uhr morgens die Nachtigall. Tagsüber jagen sich die Amselmännchen um den Apfelbaum und kämpfen um das Revier; in der Morgen- und Abenddämmerung singen sie für die Weibchen um die Wette. Fern antwortet ein anderes Amselmännchen, sorgfältig die letzte Strophe des ersten aufgreifend. Vor ein paar Tagen sah ich einen ungewöhnlich großen braunen Vogel mit einem sehr langen geraden Schnabel, am ehesten ähnelte er einer Bekassine. Wahrscheinlich war es, sagt Google, eine Waldschnepfe auf der Durchreise in die nördlichen Brutgebiete. Wegen des späten Winters ist es dort wohl noch zu kalt und sie rasten derzeit in Berlin. Oder doch eine richtige Bekassine. Auch diese sind nach diesem langen Winter im Stadtgebiet gesichtet worden.
In meinem Teich blühen die Sumpfdotterblumen aus dem Oderbruch, die dort ebenso herstammende wilde grünlichgelbe Wolfsmilch beglückt mich, weil es mir nach Jahren endlich gelungen ist, sie anzusiedeln. Die Primel aus meinem Wald im Oderbruch blüht gelb wie die Veilchen lila , die ich dort ausgegraben habe.
Meine Gartennachbarin und Freundin Sonja kommt mit Kaffee und sitzt und spricht ein bisschen über ihre Probleme bei der Arbeit. Sie ist Tischlermeisterin und leitet eine Holzwerkstatt, in der die Studenten ihrer Uni Modellbau lernen. Die Tendenz geht zur Abschaffung der praktischen Fähigkeiten; wir sind uns einig, dass das eine Fehlentscheidung innerhalb des Universitätsbetriebes ist. Ich jedenfalls bin froh über ihre Kenntnisse und dass sie mir ab und zu hilft, einen Balken aufzustellen oder ein Dach zu verschrauben.
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Meine Werkzeughütte am Eingang fungiert seit einigen Jahren als „Portugal“, seit ich dort am Atlantik meine Hütte verloren habe. Auf großen Altholzplatten habe ich mit Acrylfarben Fischerboote dokumentiert, die an der Mündung des Sado arbeiten und Meeresfrüchte fischen, ein aussterbendes Handwerk. Einmal, als ich in dem dortigen Pfahlbautenhafen rastete, kamen sie mit der ablaufenden Flut zurück von ihrem Fang, in einem Boot sang ein Mann mit Tenorstimme, nicht für mich und meine Begleiter, sondern für sich. Es war wie in alten italienischen Filmen, im Hintergrund Flamingos, es war warm, ich war Sophia Loren, mindestens aber Silvana Mangano. Die Boote sind immer in mindestens drei Farben gestrichen, leuchtend. Einmal konnte ich zwei Männern zuhören, wie sie über einen bestimmten Ton von Altrosa debattierten, ob er auch nicht zu dunkel oder zu hell sei. Fischer wohlgemerkt im Hauptberuf, nicht Künstler. Auf einem Bild sieht man die sehr derangierte ausgebleichte „Nova Efigenia“, also die junge Iphigenie. Vor ihr liegend die „Espada Encarnada“ mit erigiertem Bug, also das rote oder gar blutige Schwert. Eindeutig ein männliches Boot, auch das hat seine potenten Tage hinter sich. Der alternde Mensch sieht mit Melancholie auf das Schauspiel.
Es ist Juli, die Stockrosen blühen. Eine, Erdbeerschaum in Form und Farbe, konkurriert mit gerüschtem Tüllpetticoat in Rosa, dazwischen eine Operndiva in üppig leuchtendem Karmin. Im Vordergrund sieben Stängel einer Familie, champagnerfarbene Mousse, ganz hinten ein Zögling in Ibisrot. Wochenlang fuhr ich mit dem Rad an der Pflanze vorbei, die eine Baumscheibe schmückte. Bis sie im Herbst Samen trug … wenn sie fertig geblüht haben, fallen ihre Blüten ab und sehen aus wie gebrauchte Tampons. Das zu Werden und Vergehen … Mario Wirtz, der kürzlich verstorben ist, schrieb: Lehre mich wachsen Baum. Lehre mich fallen Blatt. Diese Betrachtung fand sich in dem Büchlein, das mir Katja nach unserer Ausstellung mit allen Texten, die sie gelesen hat, zugeeignet hat.
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Nun sehe ich, wenn das Wetter mildwarm ist, Herrn Schilitz’ Bienen meine Blüten besuchen, den Bienen hat er auf dem Dach der gegenüberliegenden Stadtmission ein Zuhause gegeben. Sie sind rundlich, pelzig, mit kleinen gelben Säckchen an den Beinen, sehr appetitlich sehen sie aus, pummelig, und sie sind sehr fleißig. Rouxouxuda, so beschrieb mich und die rundlichen Dinge mein Freund, der portugiesische Bauer und gelegentliche Dichter: In Wirklichkeit, so musste ich lernen, schreibt und spricht es sich weit weniger füllig: rechonchuda. Aber die ganze Fülle des Sommers und des Lebens klingt mir in „rouxouxuda“, nach so vielen Jahren Portugal und jetzt in meinem Berliner Garten.
Ich fühle mich den Bienen verwandt: zum einen, weil mein Großvater, der alte Förster, im Oderbruch ein Bienenhaus mit vielen Völkern hatte. Dort war es heimelig, ein Geruch von Bienenwachs und altem Holz lag darin und ein stetes Summen erfüllte das Holzhaus. Und Großvater erklärte alles, was ich wissen wollte (’tieleiche, Opa oder T’aubeneiche?). Zum anderen, weil sie zum Wohnen und Arbeiten so wenig Platz brauchen wie ich. Eine Kiste bei Herrn Schilitz. Aber das ganze „Draußen“ gehört ihnen.
Meine Freundin Gunda schickte eine Mail aus Holland und erinnerte an die Maus Frederik, „die ja gerade an solchen Herbsttagen einen großen Vorrat an Licht einsammeln kann für den kommenden Winter. Pflaumenblau und Apfelrotgelb, Zinnienrotorange und Zinnienviolett mit einem Schuss Gelb in der Mitte“.
Es ist Ende Oktober, das Wasser soll abgestellt werden. Sonja hilft mir beim Dahlienausbuddeln und Winterfestmachen. Als der schwere Deckel, unter dem die Wasseruhr in einer Tonne verborgen ist, hochgehievt ist, zeigt sich, dass in der Tonne viel Wasser steht, das ausgeschöpft werden muss. Das kann ich erst am nächsten Tag machen, der schwere Deckel bleibt über Nacht an der Seite. Einen Tag später treffe ich eine kleine Brandmaus an, die hektisch hochspringt um aus der Tonne zu entkommen. Wenn ich sie fangen will, springt sie mal ins Wasser, mal auf die Wasseruhr, wo es immerhin trocken ist. Schließlich nimmt sie das schräg gehaltene Gefäß als Arche Noah an und beide sind wir erleichtert, als die Rettungsaktion gelingt. Einmal, vor Jahren, schloss die Tür zu meiner Laube noch nicht richtig und nachts, so spürte ich, kamen eben diese Brandmäuse herein. Ich dachte an Mausefallen, dumm wie ich war, anstatt die Tür dichtschließend zu reparieren. Dann sah ich in jenen Tagen der Unentschlossenheit unter einer Pflanze ein kleines Mäusejunges, schon behaart und mit dem charakteristischen schwarzen Streifen der Brandmäuse. Es guckte mich aus Knopfaugen angstlos an, mein Vorsatz der Mausefalle löste sich in nichts auf und ich überlegte mir eine Methode zum sicheren Schließen der Tür. Nie wieder in den letzten zehn Jahren hatte ich eine Maus in der Laube, hingegen aber im Garten, wo sie mich noch heute erfreuen.
im Westen der Himmel
indigofarben.
Glühend der lila Phlox
in Erwartung des Regens,
der ihn zerstören wird.
Krachend – zieht das Gewitter vorbei.
„Donnerwetter!“, sagt Carola
Sigrid Bellack, Berlin. www.wandern-portugal.de
Nachtrag:
Über die Hütte im Oderbruch (Tagesspiegel)
Ein aktuelles Interview mit Sigrid Bellack in der TAZ. Sie hat bei MoabitOnline nicht nur über das Leben in ihrer Hütte am Hauptbahnhof berichtet, sondern auch über die Geschichte der Bürgerinitiative Essener Park und über den Brand im Seniorenwohnhaus am Eyke-von-Repkow-Platz. Es ist berührend, wie sie über ihr Leben und ihre Krankheit spricht und über ihr letztes Projekt, das Sterben.
Vielen Dank, liebe Sigrid, für diesen wunderbaren Bericht. So viel Natur in der Stadt, man glaubt es kaum.
Welch schöne Anekdoten. Du solltest ein Buch schreiben.
Wo ist dein herrlicher Garten, wenn man fragen darf?
danke für die Blumen. der garten gehört zu kleingartenkolonie lehrter str. gruß sigrid bellack
Danke. Bei meinen Recherchen für eine Geheimtour, die ich am 2. September machen möchte bin ich auf diese wunderbare Beschreibung gestoßen.
Darf ich sie den Teilnehmern vorlesen. Das wäre so eine tolle Ergänzung zur Tour.
liebe Dagmar Lutz, natürlich …
Der Tagesspiegel hat letzten Sonntag Sigrid Bellacks Text zu der Hütte im Oderbruch gebracht (etwas gekürzt):
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/leben-fernab-der-zivilisation-meine-huette-im-oderbruch/20146846.html
Ich fand schon den tagesspiegel.Artikel so wumderbar. Er hat mich berührt. Dann geggogelt finde ich hier diesen schönen Text zauberhaft bebildert danke
Es war eine sehr schöne Geheimtour „Metamorphosen“ am 2. September, mit der Lesung von Sigrid Bellacks Text über ihre Hütte am Hauptbahnhof im Vorraum ihrer Hütte am Hauptbahnhof und Gartenbuffet in einem der Nachbargärten. Danke Dagmar Lutz!
http://berlinoberlin.com/pages/de/geheimtour.php
Eine Doppelseite über Sigrid Bellack, Leben, Krankheit, Sterben in der TAZ von heute, leider im Archiv ohne die Fotos:
https://www.taz.de/!5442901/
Hier mal grundsätzlich zu Berliner Kleingärten, Vereinbarung zur Sicherung auf landeseigenen Flächen bis 2030:
https://www.morgenpost.de/berlin/article215745293/Berliner-Kleingaerten-sind-bis-2030-sicher.html