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40 Jahre Kirchenasyl in der Bundesrepublik

„Verbirg‘ die Verjagten, und verrate die Flüchtigen nicht!“ (Jes 16,3)

Zu den wesentlichen christlichen Leitsätzen gehört das Gebot der Nächstenliebe. Barmherzigkeit, Unterstützung der Hilfsbedürftigen und Schutz für die Verfolgten werden in der Bibel immer wieder thematisiert und eingefordert. Dazu lässt sich auch das Kirchenasyl zählen, dessen 40-jähriges Bestehen in der Bundesrepublik Deutschland 2023 begangen wurde.

Zur Geschichte
40-jähriges Kirchenasyl bezieht sich auf die Geschehnisse in Berlin von 1983, als Pfarrer Quandt von der evangelischen Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin drei palästinensischen Familien, die in den Libanon abgeschoben werden sollten, Asyl gewährte. In der Folge gründete sich die ökumenische „Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“, ein organisatorischer Zusammenschluss der
Kirchenasylbewegung in Deutschland.

Notunterkunft Heilandskirche im März 2022

Eigentlich ist das Kirchenasyl Jahrhunderte alt. Im Mittelalter war es im christlich geprägten Mitteleuropa ein bedeutendes Schutzinstrument. Die Kirche versuchte damit, eine Strafmilderung des Schutzsuchenden insbesondere den Verzicht auf Todes- oder Körperstrafen zu erreichen. Schon im Jahr 441 war im Konzil von Orange festgeschrieben worden: „Wer sich in eine Kirche geflüchtet hat, soll nicht ausgeliefert, sondern aus Respekt gegen den heiligen Ort verteidigt werden.“ (1).

Zahlen steigen
Mit der Entwicklung rechtsstaatlicher Systeme verlor das Kirchenasyl an Bedeutung. Seit dem neuen Kirchenrecht von 1983 gibt es offiziell kein Kirchenasyl mehr. Doch mit der zunehmenden Aushöhlung des Asylrechts gewann es an praktischer Bedeutung. Im August 2023 wurden von der „Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“ 655 Personen in 431 Kirchenasylen in Deutschland gezählt. Dagmar Apel, Pfarrerin für Migration und Integration der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, berichtete im Oktober 2023 von circa 100 Kirchenasylen mit 135 Personen, darunter 29 Kindern in Berlin und Brandenburg. Und die
Zahlen steigen, sagt sie.

Staat und Kirche sind sich in der Beurteilung des Kirchenasyls bis heute nicht einig. Eine gesetzliche Grundlage dafür gibt es nicht. Eigentlich sollte Kirchenasyl seit der Einführung der „Härtefallkommissionen“ im Jahr 2005 überflüssig werden. In diesen Kommissionen der deutschen Bundesländer haben Vertreter_innen der großen Landeskirchen Sitz und Stimme und können kirchliche
Gesichtspunkte in die Beratung über ein Aufenthaltsrecht einbringen.

Vereinbarung zwischen Staat und Kirche
Da aber Kirchenasyl zunehmend in Anspruch genommen wurde, handelten das Bundesinnenministerium und die christlichen Kirchen 2015 eine Vereinbarung aus, in der Verfahrensabsprachen zwischen den Kirchen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) geregelt wurden. In einem sogenannten Dossier wird dargelegt, warum eine Abschiebung oder Überstellung in dem jeweiligen konkreten Fall eine besondere Härte bedeuten würde. Diese Information bekommt das BAMF, zudem werden sofort Ausländerbehörde und Polizei über den Aufenthaltsort der Person informiert. Trotzdem wurden auch danach noch helfende Pfarrpersonen strafverfolgt und im Frühjahr 2023 in Nordrhein-Westfalen Geflüchtete aus ihrem Kirchenasyl in Abschiebehaft genommen worden [Ergänzung der MoabitOnline-Redaktion: dazu ein aktueller Notfall-Leitfaden der Bundesarbeitsgemeinschaft].

Entscheidung des Gemeindekirchenrats
Was passiert praktisch, wenn Geflüchtete zum Beispiel in unserer Gemeinde vor der Türe stehen und um Asyl bitten? Zunächst wird geprüft, ob eine Abschiebung eine unzumutbare Härte wäre und es Aussicht auf Erfolg, also eine erneute Überprüfung des Falles, gibt. Darüber muss der Gemeindekirchenrat (GKR) entscheiden und zustimmen. Es stellt sich dann unter anderem die Frage nach der Unterbringung: Ist eine Wohnung vorhanden? Können Gemeinderäume und Sanitärbereich (eigene Toilette) dafür genutzt werden? Welche Einschränkungen ergeben sich dadurch für das Gemeindeleben?

Auch die Frage ob Kirchenasyl in diesem Fall politisch gewollt ist, wird kontrovers gesehen. Die meisten Menschen im Kirchenasyl sind sogenannte Dublin-Fälle – 405 von den oben erwähnten 431 (Zahlen vom August 2023). Das heißt, sie müssten in das Land zurückgeschickt werden, in dem sie zuerst registriert worden waren (wobei einige Länder – aus unterschiedlichen Gründen – zur Zeit davon ausgenommen sind, wie zum Beispiel Griechenland, Malta, Bulgarien, Litauen). Es ist durchaus umstritten, ob die Annahme, nur Deutschland führe faire Asylverfahren durch, nicht von Vorurteilen geprägt ist.

Asyle in der Gemeinde Tiergarten
Zweimal wurde in unserer Gemeinde (vor ihrer Fusion, in den Jahren 2013-16) bereits Kirchenasyl gewährt. In beiden Fällen war der Beschluss im damaligen GKR sehr umstritten, berichtet der heutige Vorsitzende Fabian Eidtner. Einmal wurde eine Familie aus Tschetschenien, die zurück nach Polen abgeschoben werden sollte, in der Reformationskirche untergebracht; eine andere Gruppe
von Geflüchteten, die 2015 gekommen waren, fand Platz in der Unterkirche der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche. Inzwischen gibt es innerhalb des Kirchenkreises Berlin Stadtmitte eine Vereinbarung darüber, welche Kirchen bei Bedarf Asyl anbieten würden, weil sie räumlich dafür am besten ausgestattet sind. Unsere vier Gemeinde-Kirchen sind nicht darunter.

Recht wird nicht gebrochen
Silke Radosh-Hinder, Superintendentin im Kirchenkreis Berlin Stadtmitte, nennt das Kirchenasyl „eine Form des Moratoriums“, also eine stillschweigende Vereinbarung darüber, dass eine bestimmte Sache für eine gewisse Zeit aufgeschoben wird. Es gehe um Fälle, die bei genauerer Prüfung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge meist zu einem positiven Ausgang für die Betroffenen führen. Damit wird, so die Superintendentin „das Recht nicht gebrochen, sondern es wird ihm zur Geltung für den Betroffenen verholfen“. Das Kirchenasyl ermöglicht Betroffenen, notwendige Dokumente besorgen und vorlegen zu können und die Prüfung des Einzelfalles vorzunehmen. Die Superintendentin ist „froh und dankbar über jede Gemeinde, die dieses Engagement auf sich nimmt“.

(1) Information und Zitate aus: Matthias Morgenstern: Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden, Westdeutscher Verlag 2003.

Text: Birgit Fleischmann, Foto: Martina Knoll

Zuerst erschienen in der Gemeindezeitung „Evangelisch in Tiergarten„, Nr. 59, Dezember 2023/Januar 2024, Seite 9/10

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