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Taylan Kurt – aus Moabit ins Berliner Abgeordnetenhaus

Taylan Kurt im Gespräch

Taylan Kurt (Bü90/Grüne) wurde bei der Wahl am 26. September 2021 im Wahlkreis 4 des Bezirks Mitte –  „Moabit und Brüsseler Kiez“ – direkt ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Und zwar mit 36,9% der Erststimmen, was das beste Ergebnis eines erstmals Kandidierenden in Mitte ist. Er hat ca. 1.000 Stimmen mehr erhalten als seine Partei.
Im Parlament ist Kurt Sprecher seiner Fraktion für Sozialpolitik und Armutsbekämpfung und Mitglied im Ausschuss für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung sowie im Ausschuss Integration, Arbeit und Soziales. Nach intensiver Gewerberaumsuche wird er voraussichtlich im September zusammen mit der direkt gewählten Bundestagsabgeordneten Hanna Steinmüller ein gemeinsames Wahlkreisbüro in der Oldenburger Straße 33 eröffnen.
Kurt will – wie auch schon seit 2016 in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Mitte – Politik machen besonders für sozial Benachteiligte und Marginalisierte. Sein Motto „für ein soziales Berlin“ hat er in vier Arbeitsbereiche untergliedert: Bezahlbare Mieten und Schutz vor Obdachlosigkeit / Lebenswerte Kieze und Klimaschutz / Gerechte Mobilitätskonzepte / Teilhabe für Alle. 1988 geboren im Virchow-Krankenhaus, lebt er seitdem ohne Unterbrechung in Moabit mit gutem Kontakt zu Familie, Freund*innen und Bekannten. Gut vernetzt auch mit unzähligen Initiativen, Gruppen und Einrichtungen im Kiez. Im Juni 2022 sprach die MoabitOnline-Redaktion mit ihm über seinen Werdegang.

Gefragt, wie er denn überhaupt zur Politik gekommen sei, kommt er sofort auf seine Kindheit zu sprechen. Seine alleinerziehende Mutter war Einzelhandelskauffrau und arbeitete bei Bolle in Moabit, bis das Geschäft geschlossen wurde. Danach konnte sie niemals wieder eine anständig bezahlte Arbeit finden. „Schon als Kind habe ich gelernt, dass vieles ungerecht ist. Wir mussten jede Mark und jeden Euro dreimal umdrehen. Einmal hat meine Mutter ihr Konto überzogen, nur damit wir in Urlaub fahren konnten. Den Dispo musste sie dann die nächsten zwölf Monate abarbeiten.“ In den 1990er Jahren waren die Grünflächen in Moabit ungepflegt, viele Menschen – besonders, die mit dem sogenannten Migrationshintergrund – wurden arbeitslos und mussten mit wenig Sozialunterstützung auskommen. Kurt besuchte die Anne-Frank-Grundschule noch in der Turmstraße, er war einer der wenigen aus seiner Klasse, die eine Gymnasialempfehlung bekamen. Etwa Dreiviertel hatten viele Lehrer*innen als „hoffnunglose Fälle“ aufgegeben. „Ich habe es meiner Mutter zu verdanken, dass sie auf meine Hausaufgaben geachtet hat und mich gefördert hat, weil sie wie viele Mütter wollte, dass ihre Kinder es einmal besser haben im Leben. „

Gegen Ungerechtigkeiten wollte er selbst aktiv werden und trat deshalb mit 15 Jahren, 2003, in die SPD ein. So hat er viele Menschen kennengelernt und mitbekommen wie Politik funktioniert. Im gleichen Jahr hatte Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung den Umbau des Sozialsystems und des Arbeitsmarkts, die sogenannte Agenda 2010, verkündet, die in den Folgejahren gegen viele Widerstände, aber mit 90%iger Zustimmung von SPD und Grünen umgesetzt wurde. „Damals schon war mir klar, welche neuen Ungerechtigkeiten damit verbunden sein werden. Noch schlimmer waren allerdings die Pläne der CDU die Rente zu privatisieren und den Sozialstaat zu schleifen.“

Die Sarrazzin-Debatte hat ihm dann die Grenzen der SPD aufgezeigt. „Das war nicht mehr meine Partei: Menschen mit Migrationshintergrund rassistisch zu diffamieren, die hier geboren sind. Deshalb habe ich Parteiprogramme gelesen und mich bei den Grünen wiedergefunden.“ 2011 ist er eingetreten u.a. wegen innovativer Ideen im Klimaschutz und einer Politik der Vorsorge, die dafür sorgen will, dass es erst gar nicht zu Problemen kommt. „Das war mein erster Wahlkampf für die Grünen und ich erinnere mich, dass wir damals noch beschimpft wurden für die Idee Tempo 30 einzuführen und heute reden wir über die Verkehrswende und Kiezblocks.“

Wichtige Ziele für Kurt sind der Erhalt bezahlbaren Wohnraums und die Verhinderung von Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit. Auch hier spielen eigene Erfahrungen eine große Rolle. „Bis zu meinem 15. Lebensjahr haben wir in der Bandelstraße gewohnt. 15 Jahre, in denen das Haus vernachlässigt wurde. 2003 wurde es verkauft. Die neue Eigentümerin kam vorbei und wollte die Miete von 350 schlagartig auf 550 Euro erhöhen. Meine Mutter war gerade arbeitslos. Das war für uns nicht bezahlbar.“ Er ist dann mit seiner Mutter nach Alt-Moabit umgezogen – mit Fahrstuhl. Später ins Nebenhaus in zwei kleine Wohnungen.

Kritik an der SPD-Stadtentwicklungssenatorin Junge-Reyer (2004-2011) kommt auf, die dafür sorgte, dass Zehntausende Sozialwohnungen nach ihrem Verkauf aus der Sozialbindung fielen. Sie hielt Neubau für unnötig, da 100.000 Wohnungen in Berlin leer stünden. 2012 war Kurt Bürgerdeputierter im Integrationsausschuss der BVV Mitte und erlebte die Auseinandersetzungen bei der rabiaten Räumung der Romafamilien aus der Turmstraße 64 mit. Hilfe durch das Bezirksamt Mitte für die Betroffenen war nicht ausreichend. Gleichzeitig gründete sich am Kottbusser Tor aus Verzweiflung über steigende Mieten und gleichzeitge Vernachlässigung der Instandsetzung die Mieterinitiative Kotti & Co. – für Selbsthilfe und Aushandlung eigener Forderungen. Die selbstgebaute Hütte auf dem Platz, das Gecekondu, steht seit 10 Jahren dort, die Mieter*innenbewegung hat großen Aufschwung genommen. „Es sind nicht nur die privaten Vermieter, die ihre Häuser jahrelang vernachlässigen. Ich habe die Gewobag-Wohnungen in der Wiclefstraße 65 besucht. Dieses Haus wird seit Jahren vernachlässigt: Bleirohre und Asbest, versiegelte Flurfenster, von vier Waschmaschinen für 200 Wohnungen sind zwei kaputt. Sie werden zusätzlich auch von den Mieter*innen des Neubaus benutzt.“ Kurt hält die offensive Durchsetzung von Instandhaltungspflichten für notwendig. Kurt weiß, wie schwierig es für viele Mieter*innen ist die eigenen Rechte durchzuklagen, deshalb braucht es ein stärkeres politisches Gegengewicht: „Wenn die Fürsorgepflicht des Staates erst bei Obdachlosigkeit greift, dann ist es bereits zu spät.“

Gefragt nach aktuellen Erfolgen oder Schwerpunkten seines Einsatzes nennt Kurt unter anderem: den Erhalt von Evas Haltestelle,  einer Einrichtung für wohnungslose Frauen in der Müllerstraße, mehr aufsuchende Sozialarbeit bei drohender Räumung, Weiterfinanzierung der mobilen Stadtteilarbeit in Moabit bis Ende 2023, Realisierung bezahlbarer Wohnungen und einer kleinen Grünfläche auf dem Siemensparkplatz zwischen Berlichingen- und Rostocker Straße, mehr Mittel für die soziale Infrastruktur in Moabit, geschützte Radwege auf Beussel- und Turmstraße und Kiezblocks, mehr Hilfen für von Armut Betroffene, Verbesserung der Finanzierung für den Tag des guten Lebens im Brüsseler Kiez und die neue Bilbliothek in der Turmstraße.

Das Interview führten Jürgen Schwenzel (Foto) und Susanne Torka

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