Der Pferdeeisenbahn-Betriebshof Waldenserstraße
Moabit, historisch
Wer durch die Einfahrt Waldenserstraße 2–4 geht, betritt ein Grundstück, dessen Tiefe beeindruckt. Früher ging es sogar bis zur Wiclefstraße durch. An den Längsseiten erstrecken sich zwei alte Backsteingebäude, die unschwer als ehemalige Ställe oder Garagen zu identifizieren sind.
Hier waren einst Pferde und Wagen der Pferde-Eisenbahn untergebracht – denn in der Waldenserstraße ließ die Große Berliner Pferde-Eisenbahn AG ihren letzten Betriebshof errichten. Erbaut wurde er 1890/91 von den Maurer- und Zimmermeistern Stiebitz und Köppchen nach einem Entwurf des Oberingenieurs Joseph Fischer-Dick. Dieser hatte auch einen maßgeblichen Anteil am betriebstechnischen Aufbau und an der architektonischen Gestaltung des Depots. Es war die größte Anlage dieser Art des Verkehrsunternehmens. Dabei waren die Tage der Pferdebahnen, jener Vorläufer der Straßenbahn längst gezählt: Denn schon 1879 hatte Werner von Siemens auf der Berliner Gewerbeausstellung eine elektrische Bahn präsentiert, die die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf sich zog, deren Technik jedoch noch nicht ausgereift war.
Begonnen hatte das Zeitalter der Pferde-Eisenbahn am 26. November 1832, als mit der New York & Harlem Railroad die weltweit erste Linie in Betrieb ging. In Europa verbreitete sich das neue Verkehrsmittel ab 1854 zuerst in Paris. Den öffentlichen Nahverkehr in Berlin bewerkstelligten zu dieser Zeit noch zahlreiche Fuhrunternehmer mit Droschken und Pferdeomnibussen. Das Berliner Polizeipräsidium wünschte daher eine »Centralisation des sämtlichen öffentlichen Fuhrwesens«. Am 22. Juni 1865 nahm die »Berliner Pferde-Eisenbahn-Gesellschaft E. Besckow« den Betrieb zwischen den Brandenburger Tor und Charlottenburg, Spandauer Straße auf. Genau genommen begann es also in Charlottenburg, denn die Stadt Berlin endete damals ja noch am Brandenburger Tor. 1871 gründete sich die Große Berliner Pferde-Eisenbahn AG, die sich schnell auf dem Markt behauptete. 1873 begann der Betrieb mit der Linie 8 vom Gesundbrunnen zum Rosenthaler Platz.
Um 1895 lebten in den heutigen Grenzen Berlins geschätzt 2,5 Mio. Menschen. Die Pferdebahn hatte sich neben dem Pferdeomnibus zum wichtigsten Verkehrsmittel innerhalb der Reichshauptstadt und umliegenden Städten entwickelt. Am Transportmarkt beteiligten sich nun neben der Großen Berliner Pferdeeisenbahn auch die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn, die Neue Berliner Pferdebahn sowie weitere Gesellschaften in den umliegenden Städten und Gemeinden.
Doch die Erschließung der Innenstadt durch die Eisenbahn mit Eröffnung der Berliner Stadtbahn im Jahr 1882 führt zu ersten Rückschlägen für die Berliner Pferdebahnen. Hinzu kamen deren hohe Kosten durch den Unterhalt, Pflege und geringe Einsatzzeiten. So versuchte man schon früh alternative Antriebe zu suchen. Bereits ab 1901 verdrängt der kostengünstigere elektrische Betrieb die Pferdeeisenbahn aus dem Berliner und Charlottenburger Stadtbild. Die Anlagen und Pferde sowie die pferdespezifischen Arbeiter werden teilweise an den noch pferdebetriebenen Omnibus abgegeben.
Der letzte Betriebshof der Großen Berliner Pferde-Eisenbahn AG, die bald das Pferde aus ihrem Namen gestrichen hatte, war praktisch nur 13 Jahre in Betrieb. Nachdem er im Zuge der Elektrifizierung der Berliner Straßenbahn 1904 stillgelegt wurde, blieben die alten Backsteingebäude erhalten. Seit 1924 wurde das Areal Waldenserstraße 2–4 als Gewerbehof genutzt.
Die Bausubstanz verrät noch viel über die Organisation des Fuhrbetriebs. Aufgrund der hohen Bodenpreise und der beengten Verhältnisse auf innerstädtischen Grundstücken mussten Pferde und Wagen auf mehreren Stockwerken untergebracht werden. Dazu entwickelte man Etagenpferdeställe. Das westliche, viergeschossige Gebäude konnte in den beiden unteren Etagen 506 Pferde aufnehmen. Innen führten lange Rampen vom Erdgeschoss in das obere Stockwerk. Diese wie auch die preußischen Kappendecken blieben erhalten. Das gegenüberliegende östliche Gebäude, das zwei Geschosse umfasst, diente als Wagenschuppen. Es wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt und 1959–60 vereinfacht wiederaufgebaut. Erhalten blieb der Kopfbau – der frühere Wohn- und Verwaltungstrakt an der Waldenserstraße. Mit der gelben Backsteinverkleidung und einem sparsamen Terrakottaschmuck hebt er sich von den übrigen Betriebsgebäuden ab.
Heute gehen täglich etliche Menschen in der Waldenserstraße 2–4 ein und aus: Denn hier residiert der Bildungsmarkt e.V., das Mutterunternehmen des Bildungsmarkt Unternehmensverbundes mit zahlreichen Berufsbildungs- und Integrationsangeboten sowie Freiwilligendiensten.
Text: Ulrike Steglich, Foto: Christoph Eckelt, bildmitte
Zuerst erschienen in der „ecke turmstraße„, Nr. 4 – sept / okt 2020