Krefelder Straße 20 – neue Stolpersteine
Am 8. Oktober 2011, kurz vor dem 70. Jahrestag des Beginns der Deportationen von Jüdinnnen und Juden aus Berlin, hat der Künstler Gunter Demnig vor dem Haus Krefelder Straße 20 drei neue Stolpersteine verlegt. Mit ihnen erinnert die Hausgemeinschaft an drei Menschen, die in ihrem Haus gelebt haben.
Else Cohn wurde am 25. Januar 1942, nur einen Tag vor ihrem 63. Geburtstag, zusammen mit ihrer Tochter Gerda Cohn, 37 Jahre alt, vom Bahnhof Grunewald deportiert. Sie lebten in einer kleinen 2-Zimmerwohnung im Gartenhaus.
Beide waren sehr arm. Das ist aus der archivierten Vermögenserklärung zu erkennen. Eine solche Liste mussten alle Juden vor ihrer Deportation ausfüllen. Das Vermögen wurde „zu Gunsten des Reichs“ eingezogen. Das Ziel des Deportationszuges war Riga. In eisiger Kälte waren die Güterwaggons fünf Tage unterwegs. Von über 1000 Menschen überlebten nur 13 den Transport.
Auch James Rosenthal hatte in der Krefelder Straße 20 gelebt, bevor er zum Umzug in ein sogenanntes Judenhaus in der Gotzkowskystraße gezwungen worden war. In solchen Häusern mussten Juden zusammengedrängt auf kleinstem Raum auf ihre Deportation warten. James Rosenthal war Arbeiter bei der Firma Nordland in der Kurfürstenstraße, die Schneeketten herstellte. Vom Sammellager in der Synagoge Levetzowstraße ging der Marsch bewacht von SS durch die Straßen Moabits bis zu den Militärgleisen des Güterbahnhofs an der Quitzowstraße. Dort ging der 33. Osttransport am 3. März 1943 nach Auschwitz ab. Von über 1700 Menschen wurden 1000 sofort nach der Ankunft in die Gaskammern geschickt und ermordet.
Zur Feierstunde der Stolpersteinverlegung waren Nachbarn aus der Umgebung genauso eingeladen wie interessierte politische Gruppen. Eine Einladung und diese kleine Informationsbroschüre wurde zuvor in der Nachbarschaft verteilt. Viele waren gekommen, gedachten der verfolgten und getöteten Nachbarn und lauschten der Rede von Dr. Wolfgang Krüger. Die Musiker Kathi Kelsh und Lothar Nierenz spielten im Treppenhaus Violinduos von Bela Bartók, die Schauspielerin und Regisseurin Claudia Prietzel trug Gedichte von Rose Ausländer und Nelly Sachs vor und die 87jährige Schauspielerin Gisela May das Brecht-Gedicht „An die Nachgeborenen„. Sie berichtete, wie sie in ihrer Jugend die Judenverfolgung der Nazis erlebt hat. Wer die Rede von Krüger nachlesen möchte, sie ist in der diesjährigen Zeitung zum 9. November der Antifaschistischen Initiative Moabit (AIM) auf Seite 12 dokumentiert.
Initiiert hat die Stolpersteinverlegung in der Krefelder Straße 20 Dr. Wolfgang Krüger, der seit über 30 Jahren dort seine Praxis hat. Der „Kiezpsychotherapeut“, wie er sich selbst bezeichnet, erzählte bei einem Treffen kurze Zeit nach der Veranstaltung, dass er als Psychotherapeut prädestiniert sei, die Vergangenheit zu erforschen. Das hat er schon vor Jahren für sein Haus und Stadtviertel gemacht und dafür 100 Jahre Bauakten gewälzt. Er war überrascht wie deutlich sich in dem kleinen Kosmos eines Hauses die große Weltgeschichte widergespiegelt. Was fehlte waren alle Mieterakten von 1939 bis 1945. Der erste Gedanke: „Sollte etwas vertuscht werden?“
Krüger hat sich auf eine lange Suche gemacht, die Berliner Adressbücher von 1938 bis 1943 nach jüdisch klingenden Namen durchforstet, Briefe an die jüdische Gemeinde geschrieben, nach den Vermögensakten geforscht. Und er hat mit vielen älteren Nachbarinnen und Nachbarn gesprochen und dadurch eine ganz Menge Einzelheiten herausbekommen. Jeder wusste um die Verfolgung jüdischer Nachbarn, sie war Teil des „normalen Alltags“. So durften Juden z.B. täglich nur eine Stunde lang einkaufen. Menschen mit dem gelben Stern standen nachmittags von 16 bis 17 Uhr beim Bäcker in der Krefelder Straße an, berichtete eine Nachbarin, die das als Kind beobachtet hatte. Herr Golücke, Optiker aus der Turmstraße, erzählte ihm, dass er James Rosenthal und seine Frau, die dieser erst geheiratet hatte, als er schon in der Gotzkowskystraße wohnte, noch gekannt habe und sich erinnert, wie sie verängstigt und eng nebeneinander durch die Straßen gegangen seien und versucht hätten ihre Judensterne zu verbergen.
Krüger bedauert, dass es ihm und den anderen Paten der Stolpersteine nicht gelungen ist, Angehörige der Ermordeten ausfindig zu machen. Bei seinen Recherchen empfand er die bürokratische Normalität der Judenverfolgung besonders unerträglich, die festen Abfahrt- und Ankunftszeiten der Deportationszüge, die akribischenVermögenslisten, den Schriftverkehr mit den Behörden. So war in der leerstehenden und versiegelten Wohnung der Cohns ein Wasserschaden entstanden. Das einzige Interesse der Hausverwaltung bestand darin, zu erfahren, welche Behörde für diesen Schaden aufkommt.
Krüger hat aber auch Beispiele von Widerstand gefunden, die ihn hoffen lassen und gleichzeitig die Frage stellen, ob er selbst den Mut gehabt hätte, so zu handeln. In seiner Rede erwähnt er den „Arzt Dr. Helmy, er war Ägypter und lebte in der Krefelder Straße 7. Er verlor 1937 aufgrund einer Denunziation seine Assistentenstelle am Robert-Koch-Krankenhaus. Obwohl er für ein halbes Jahr in Haft war, kümmerte er sich in den 1940er Jahren um verfolgte Juden, besorgte illegale Quartiere, er betreute Untergetauchte medizinisch und schaffte Lebensmittel herbei. Überlebende rühmten ihn als einen ‚wundervollen Menschen.‘ “
Die Feier sollte eine möglichst breite Öffentlichkeit finden. Dabei hat eine Hausbewohnerin geholfen, die an der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg mitgearbeitet hat. Unter aller Augen sind die Juden von der Synagoge Levetzowstraße über Alt-Moabit, Strom-, Turm- und Lübecker Straße bis zu den Militärgleisen an der Quitzowstraße getrieben worden. Für alle sichtbar. Es waren nur wenige, die geholfen und Widerstand geleistet haben.
Hier noch zwei Hinweise:
Die Kampagne „Sie waren Nachbarn“ braucht noch Unterstützer auch zum Verteilen der Plakate.
Am 9. November 2011 berichtet Andree Leusnink (geb. 14. Mai 1938) als Zeitzeugin bei der Auftaktkundgebung der antifaschistischen Demonstration, Treffpunkt Mahnmal Levetzowstraße
Fotos: Hausgemeinschaft und Andreas Szagun
Nachtrag:
Ein Artikel über die Werkstatt und den Künstler, der die Stolpersteine in Buch produziert, ist im Berliner Abendblatt erschienen.
Nachtrag 2013:
Jetzt ist auch der ägyptische Arzt Helmy, der in der Krefelder Straße 7 praktizierte und Juden versteckte von Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt worden (Berliner Zeitung).
Auch in der Thomasiusstraße sind einige Stolpersteine vor etwa einem Jahr verlegt worden, es sollen aber noch viel mehr werden:
http://www.berliner-woche.de/nachrichten/bezirk-mitte/moabit/artikel/29353-88-stolpersteine-werden-in-der-thomasiusstrasse-verlegt/
Nachdem im Frühjahr Shimon Lev in Moabit zu Besuch war und das frühere Wohnhaus seiner Familie besuchte:
http://www.berliner-woche.de/nachrichten/bezirk-mitte/moabit/artikel/36845-shimon-lev-besuchte-frueheres-wohnhaus-seiner-familie/Der Zeitpunkt rückt der Zeitpunkt für die erste größere Stolperstein-Verlegung in der Thomasiusstraße näher:
http://www.berliner-woche.de/nachrichten/bezirk-mitte/moabit/artikel/46809-105-stolpersteine-werden-von-anwohnern-verlegt/
Es werden insgesamt 105 Stolpersteine verlegt, finanziert von Anwohner_innen.
Hallo, wir moechten Stolpersteine am Alexanderufer beantragen. Koennen Sie uns sagen, wo wir diese beantragen koennen? Frau Sow, Hannah-Arendt-Gymnasium
Es dauert zur Zeit sehr sehr lange, weil es so viele Menschen gibt, die im Bezirk Mitte Stolpersteine verlegen lassen wollen. Aber das ist ja auch gut, dann gibt es genug Zeit für Recherchen zu den Biographien der Opfer.
Hier die Webseite „Stolpersteine Berlin“, auf der beschrieben wird, wie es geht:
http://www.stolpersteine-berlin.de/de/engagement
Und die Webseite des Künstlers Gunter Demnig mit eben solchen Hinweisen:
http://www.stolpersteine.eu/technik/
Am Mittwoch, 25. März werden in der Thomasiusstraße weitere Stolpersteine verlegt, vielleicht eine gute Gelegenheit um Kontakt aufzunehmen:
https://moabitonline.de/events-2?event_id=15785
Wolfgang Krüger aktiv für Erinnerung und auch für klimaangepasstes Gärtnern:
https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/im-garten-wasser-sparen-bevor-die-verbote-kommen-so-einfach-gehts-li.251236