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13 Stunden MÜHSAM!

… in Gedächtnispark Lehrter Zellengefängnis und Theaterdock
– anlässlich der 75. Todesnacht von Erich Mühsam im KZ Oranienburg –

Alle Wetter! Das war ein Programm, das sich gewaschen hatte!! Die allzu Zaghaften und Zauderlichen werden wohl zu Hause geblieben sein – angesichts der Wetterlage – es gab ja keine bezahlten Tickets. Der Tag hielt uns mit launischem „Sommerwetter“ in Atem, das eher einem sonnengestreiften frühen Apriltag glich.

ZuschauerSo kamen denn über die Zeit vielleicht hundert oder etwas mehr Gäste und Vortragende aller Altersstufen im „Geschichtspark Lehrter Zellengefängnis“ zusammen, um Erich Mühsams 75.er Todesnacht zu gedenken. Der DIY-Gedanke kam bei vielen offenbar nicht so richtig durch und auch die Warnungen vor kühlem Wetter wurden von allzu vielen in den zugigen Wind geschlagen: es wurde bei 13-19° C viel gefroren … etliche schlug dies über kurz oder lang in die Flucht.

Aber die, die blieben, erlebten ein vielfältiges, buntes und inspirierendes Programm, das das Ausharren bei solch ungünstiger Wetterlage völlig wett machte. Die ansprechende Umgebung des Gedächtnisparks tat ein übriges.

Obwohl gleich zu Beginn Verspätungen (einige Interpreten hatten wohl das Programmupdate nicht mehr gelesen) und Ausfälle fester Programmpunkte (Elke Querbeet – dringlicher Besuch, Hardy Finn – Bandscheibenvorfall: wir wünschen gute Besserung!) den Ablauf ins Wanken brachten und mit cum tempore begonnen wurde, kam schnell Schwung in die Veranstaltung.

Ralf G. LandmesserEin aus Zeitnot direkt vom Motorrad gestiegener lederbejackter Moderator moderierte mit einem Brecht-Zitat („Ach wir hatten viele Herren„) und Erich Mühsams selbstgeschriebenen Kurzlebenslauf an und dann gings in die Vollen.

Gaby Weber und Claudia WeidenbachGaby Weber trug aus ihrem neuen Theaterstück „Chatting with Sokrates“ drei Akte als szenische Lesung unter Mitwirkung von Claudia Weidenbach, Michael Bolz und Ralf G. Landmesser vor und stellte sich den Fragen des Publikums zu wirtschafts“wunder“licher Verschiebung von Naziraubmilliarden via Mercedes Benz Argentina Der singende Tresen und dem damit zusammenhängenden Atombombengeschäft von vier Staaten.

Der Singende Tresen performte als Teilcombo (Leadsängerin Manja Präkels, Klarinettist Thorsten Müller am Akkordeon und Markus Liske) mitreißend Mühsam Gedichte und -Songs.

El Taller del PatioEl Taller del Patio führte als Theaterduo mimisch eine mit großem Beifall bedachte antimilitaristische Chaplinesque vor dem eindrücklichen Mauerspruch Albrecht Haushofers vor, die die Aktualität des militaristischen Mülls in augenzwinkernde Szene setzte. Auch auf die prekäre Lage des nahezu 25 Jahre alten Spanischsprechenden-Kulturtreffs El Patio e.V. in der Moabiter Waldstraße (Streichung des Mietzuschusses durch den Senat) wurde hingewiesen.

Ingrid Kröning, (Zimmertheater Karlshorst) selbst das erste Jahr ihres Lebens im NS-Gefängnis aufgewachsen, erzählte vom tragischen Schicksal ihrer kommunistischen Eltern, die beide als Widerstandskämpfer von den Nazis eingekerkert wurden – der Vater hatte eine zeitlang im Lehrter Zellengefängnis eingesessen und wurde schließlich im KZ Sonnenburg ermordet. Die Mutter überlebte.

Klaus HuglerNeuenfeldtNoch unter diesem Eindruck fand der gemeinsame Vortrag von Isabel Neuenfeldt (Gesang und Akkordeon) und Klaus Hugler statt, der Erich Mühsams Geschichte in Berlin beleuchtete und musikalisch illustrierte. Die ungewöhnliche Interpretation von Mühsam-Songs durch Isabel Neuenfeldt vor der Kulisse der Mauer, rührte das Publikum deutlich an, während Hugler mit hellem Sturmhut und windbewegtem kropotkinschen Rauschebart die Fakten vortrug.

In der einsetzenden Dämmerung lasen an gleicher Stelle Leander Sukov und Julietta Barrientos (Portal cultureglobe.de / Verlag Kulturmaschinen) Texte zu Mühsams Changieren zwischen Anarchismus und früher KPD / revolutionärem Bolschewismus, die das Problematische dieser Verbindung hervorhoben (ganz kurzzeitiger Eintritt in die KPD und protestierender Austritt aus der Roten Hilfe).

Uschi Otten legte bei hereinbrechender Dunkelheit (weshalb MoabitOnline ab hier  auch keine Fotos hat) und nach erfolgtem Umzug in den Zentralwürfel des Parks in einem eindrücklichen Vortrag das unlöslich mit Erich Mühsam verknüpfte, erschütternde Schicksal seiner Frau Zensl Mühsam dar, die, auf der Flucht vor den Nazis, Jahrzehnte in stalinschen Gulags verbringen musste – in Nowosibirsk beinah krepierte, unter prekären Umständen von SU und DDR des Mühsam-Nachlasses beraubt wurde und -veranlaßt durch Verrat spät zurückgekehrt- unter ständiger StaSi-Aufsicht starb.

Dr. Lusdzuweit und Professor Dr. Bauer von der Internationalen B.Traven-Gesellschaft hielten einen erhellenden Vortrag über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Freunde Erich Mühsam und B. Traven, die in der vor 90 Jahren niedergeschlagenen Münchener Räterepublik zusammen gewirkt hatten.

Geigerzähler / Atze Wellblech lockerten an dieser Stelle die vielen Texte mit Geige und Kontrabass auf und gaben mit einem Mühsamsong und satirischer NeoNazi-Veralberung einem ernsten Thema einen erfrischenden Anstrich. Leider musste aus Zeit- und Wettergründen (einsetzender Regen) ihr zweiter, später geplanter, Auftritt ausfallen, sehr zum Leidwesen des Veranstalters.

Wilfried F. Schoeller, Schriftsteller und ehem. Generalsekretär des Deutschen P.E.N., schreibt an einem Buch über die Mühsams und verzichtete angesichts des detaillierten Vortrags von Uschi Otten über Zensl Mühsam auf das Verlesen seiner Passage zum gleichen Thema. Statt dessen kam er auf die aktuelle und akute Repression gegen (nicht nur) Schreibende in aller Welt zu sprechen und zog die Linie zwischen den Mühsams und heutigen Zuständen von Repression, Kerker, Folter und Mord. In einer Rede, die ein größeres Publikum verdient haben würde, wies Schoeller auf die Schwierigkeiten von Aufklärung – selbst so weit zurückliegender Fälle wie der der Mühsams – alte und neue Beispiele von menschenverachtender Repression und ihre systematische und systemische Kontinuität hin. Hier zog er überzeugend die Linie von den Vorstellungen Erich Mühsams und dessen ebenfalls ermordeten (1919) Freund und Mentor Gustav Landauer zur Notwendigkeit neuer anarchistisch inspirierter Netzwerke in der heutigen, aus den Fugen krachenden Welt und Gesellschaft.

Der bewährte Bühnenbarde Lennard Koerber erfüllte dann die immer sibirischer werdende Luft von der Würfelplattform aus, auch per Quetschkommode instrumentalisiert, mit Arbeiter- und jiddischen Liedern. Dabei wurde vielen Gästen, trotz des widrigen Wetters warm ums Herz und ein paar rote Windlichter, Sterne und der fast volle Mond beleuchteten nicht unfreundlich die Szenerie.

Peter Matzer-Liszt hatte nicht nur ein selbstgebautes tragbares Mühsam-Vortragspult mitgebracht (das Mühsam-Portrait daran von seiner charmanten Lebensgefährtin, der Künstlerin Claudia Weidenbach gemalt), sondern eine ganze neue Mühsam-Show. Aus einer Schauspielerdynastie Österreichs stammend, trug er satirisch-politische und weniger satirische Mühsam-Texte am laufenden Band in so faszinierender Vortragskunst vor, dass die um ihn Gescharten zeitweise fast den eisigen Wind vergaßen, der nun über das Gelände strich.

Wolfgang Helfritsch und das Zimmer-Theater Karlshost [ZK] (Marlis Helfritsch, Ute Knorr, Ingrid Kröning) traten, sich aus den Decken schälend, verschiedentlich Matzer-Lizts Vortrag illustrierend unterbrechend, mit gekonnten Tucholskypassagen, Fontane (Ingrid Kröning mit „Das Trauerspiel von Afghanistan“), Mascha Kaleko (Ute Knorr) und anderen Sprechstücken in freiem Vortrag auf. Besonders Helfritschs Solo des alkoholisierten Weimarer Wahlkampf-Trinkers bleibt hochamüsant und im aktuellen Wahlgetümmel im Gedächtnis. Aber die Damen standen ihm beileibe in nichts nach.

Auch der Moderator Ralf G. Landmesser warf hie und da ein Mühsam-Gedicht ein.

An dieser Stelle setzte, unter mittlerweile sehr dunstigem Himmel, leichter, aber spürbarer Dauerregen ein, der das zusammengeschmolzene Publikum die Szenerie des Parks zu räumen veranlasste. Nachdem sich das Publikum zwei Stunden vorher entschieden hatte, „trotz alledem“ im Park zu bleiben, wurde nun Zuflucht im gastlichen und für diesen besonderen Anlass freundlicherweise kostenlos zur Verfügung gestellten „Theaterdock“ der „Kulturfabrik Lehrter Straße 35 (KuFa)“ gesucht. Vielen herzlichen Dank auch auf diesem Wege an die BetreiberInnen dieses wohlausgestatteten „Trockendocks“ !!!

Hier ging nun Matzer-Liszts Vortrag weiter. Michael Bolz, Frank-Burkhard Habel und Atze Wellblech waren uns schon vorher im Dunkeln verloren gegangen. Zu Wort kamen, nachdem im Konsens auf filmische Darbietungen verzichtet wurde, noch der Vorsitzende der Internationalen B.Traven-Gesellschaft, Wolf Dietrich Schramm mit einem Vortrag zu B.Traven in der Münchener Räterepublik und erheiternden und tiefsinnigen Traven-Kurzgeschichten, die die unterschiedliche kulturelle und wirtschaftliche Denke von westlichen Geschäftshaien und erdverbundenen Indigenen beleuchteten. Schramm, großer Traven-Sammler und -kenner, erzählte noch von seinen kürzlichen Erlebnissen in Mexico und im dortigen Travenhaus und -Nachlass, sowie über die geheimnisumwitterte, wohl nie mehr zu klärende Herkunft des Dichters und Revolutionärs Ret Marut – B. Traven.

Auch Ernesto della Situatione kam am Ende noch mit einigen Mühsam-Gedichten zu Wort, während nun in kleiner Runde von ungefähr einem standhaften Dutzend auch Zeit und Muße blieb, sich über verschiedene inhaltliche Aspekte der „12 Stunden MÜHSAM!“ auszutauschen.

Peter Matzer-Liszt griff schließlich noch in die Saiten und sang neben Mühsam u.a. Songs des umwerfenden russischen Dichters und Schauspielers Vladimir Vysotzky die vom DDR-Künstler Reinhold Andert übersetzt worden waren. Dies bot Anlaß, noch einmal im Gespräch auf den Aspekt von Kultur und Freiheit einzugehen und illuminierende Anekdoten dazu zu hören (wie z.B. in der UdSSR die tonnenschwere Wolga-Limousine des Schauspielers, der durch seine Popularität nahezu unangreifbar war, vom Bahnhof bis zum Theater über den Köpfen einer Menge GETRAGEN wurde).

So verging die Zeit bei Rotwein, Sang und Rede fast wie im Fluge und aus den 12 Stunden MÜHSAM! wurden über 13, bis die letzten unter Nachwischen und Mühsam von der Tonkonserve (Alexander Lipping, u.a.) nach herzlichem Abschied den Raum räumten und dem lohnarbeitenden Volk Fabrik und Kultur überließen.

Wetterbedingt sind leider alle Infotische ausgefallen – bedauernswerter weise damit auch die Lesung des ABC Berlin „Hau ab mensch“ von Xosé Tarrio (empfohlen zum selbst nachlesen zu Hause).

Auch Uta Pilling, Michael Bootz und Gerhard Vondruska blieben verschollen; vielleicht waren sie ja inkognito da (ja – ich erfahre gerade: Vondruska war vor Ort).

Hier noch das Mühsam-Gedicht zum Wetter:

Die Leidenschaften in der Brust,
noch niemand war, der sie getrennt.
Aus einem Herd flammt Schmerz und Lust.
Haß lodert nur, wo Liebe brennt.
So mischt sich Ebbe, mischt sich Flut,
hüllt Goldstaub sich in Asche grau,
im gleichen Wolkenbette ruht
der Schnee bei Hagel und beim Tau.
Aus der Sonne dunstet Unheil,
aus den Blitzen zuckt Erbarmen …
Alle Wetter, alle Wetter
hält der Himmel in den Armen.

Nur wen des Lebens Buntheit schreckt
der fürchtet sich vorm Untergehn.
Vernichtung ists die Leben weckt
und alles Sterben ist Entstehn.
Im müden Stamme frißt der Wurm,
zur Sonne strebt der junge Trieb –
Feg ihm die Bahn, Zerstörer Sturm!
So hat der Tod das Leben lieb.
Wolkenbruch und Strahlengluten,
Reif und Frost und Erdenbeben …
Alle Wetter, Alle Wetter
töten und erzeugen Leben.

aus Theaterstück ALLE WETTER (1930)

Text: Ralf G. Landmesser
Fotos: Jürgen Schwenzel

Nachtrag v. 17.7.:
hier noch eine Fotostrecke mit Aufnahem von Ralf G. Landmesser, darunter zwei Aufnahmen, die Peter Matzer-Liszt und Ernesto della Situationeam nach dem regenbedingten Umzug ins Theaterdock  zeigen.
[mygal=090709muehsam-fotosralf]

4 Kommentare auf "13 Stunden MÜHSAM!"

  1. 1
    Redaktion says:

    Vor einem Jahr noch mit viel Beifall bedacht: Taller das Theater vom El Patio e.V. ist es jetzt bald heimatlos. Weil die Mietkosten des seit 24 Jahren existierenden Vereins nicht mehr vom Senat übernommen werden, muss das El Patio in der Waldstraße schließen. Auch die „letzte Vorstellung“ La Hidra mit Texten von Heiner Müller in der Waldstraße 47 war beeindruckend.
    Solidarität wird auf der Webseite des Quartiersmanagement Moabit West gefordert:
    http://www.moabitwest.de/Solidaritaet-fuer-El-Patio.3531.0.html

  2. 2
    Rané says:

    Oh je, vielleicht kann ich in Wilmersdorf helfen. Muss nur selbst die alten Kontakte reaktivieren.

    Solidarischer Gruß
    Rané

  3. 3
    R@lf says:

    Fünf Jahre sind vergangen. Der 80. Jahrestag der Ermordung Erich Mühsams am 10. Juli 1934 durch die Nazis naht. Auch 2014 ist er nicht vergessen. Als Auftakt erinnert an ihn, seine Zensl und sein Leben Ralf G. Landmesser, morgen, Mittwoch, 18. Juni 2014 im Theater Coupé am Fehrbelliner Platz:
    http://www.kuenstlerkolonie-berlin-ev.de/index.php/veranstaltungen-infos.html#ralfglandmesser

    Aber auch ein großes MÜHSAM-FEST naht am 12. Juli 2014 zusammen mit einer vorhergehenden Gedächtnisdemonstration in Oranienburg. Nötig ists. Nationalismus und Rassismus sind weltweit wieder erschreckend auf dem Vormarsch und es wird höchste Zeit eindeutige Zeichen gegen den erneut aufkommenden Wahnsinn zu setzen:
    http://www.erichmuehsamfest.de/

    NIE MEHR FASCHISMUS – NIE WIEDER KRIEG!

  4. 4
    R@lf says:

    Zum 80. Jahrestag seiner Ermordung durch die SS am 10. Juli 1934 ist Erich Mühsam auch wieder in Moabit präsent, wo er die erste Zeit seiner Folterhaft im Lehrter Zellengefängnis verbrachte:
    Im ARTENSCHUTZTHEATER in der Lüneburger Str. 370 trat Sally Sallmann mit Band am Sonntag, den 29. Juni 2014 mit seinem Mühsam-Programm in Form einer Record-Release-Party auf. Der Eintritt war frei. Sallmann hat Mühsams Lieder und Gedichte in ein neues musikalisches Gewand gesteckt. Ob ihm dies gelungen ist, kann mensch sich auf der bei DuDu-Records erschienen CD anhören (im Vertrieb von Buschfunk, BestNr. BF 05262, mail@buschfunk.com, Rodenberstr.8, 10439 Berlin). Sallmann beschäftigt sich seit den 1970er Jahren mit Mühsam. Bekannt wurde seine Vertonung des Mühsam-Gedichts „Fluche, Seele, fluche“ durch „Pannach & Kunert“.
    http://www.salli-sallmann.de/
    http://www.artenschutztheater.de/2014_06_29_salli.php
    http://www.buschfunk.com/start

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