Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Annika Scheffel ist 30 Jahre alt und hat schon zwei Romane geschrieben. Die Literaturkritik ist begeistert
Im Jahr 2009 war Annika Scheffel zur richtigen Zeit am richtigen Ort: im Literaturhaus München. Dort hatte sie ein zwölfmonatiges Seminar für junge Romanautoren besucht und nicht nur viel gelernt, sondern auch noch einen Verlag für ihren Erstling „Ben“ gefunden. Die Seminarleiterin hieß Daniela Seel, Inhaberin des kleinen, renommierten Berliner Verlags Kookbooks. Zwischen „Ben“ und der ambitionierten Verlegerin hat es gleich gefunkt. Ein Jahr später erschien der Roman der Moabiter Schriftstellerin und Drehbuchautorin bei Kookbooks und im März 2012 als Taschenbuchausgabe im S. Fischer Verlag. Für das Debüt gab es reichlich Lob der Literaturkritik, einen Platz auf der SWR-Bestenliste im September 2010 und zudem eine Auszeichnung: den Förderpreis zum Grimmelshausen-Preis.
Ende Februar ist ihr zweiter Roman „Bevor alles verschwindet“ erschienen – im Suhrkamp Verlag. Wiederum hochgelobt von der Kritik. So schreibt etwa Volker Weidermann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Annika Scheffel hat die Wirklichkeit mit den Möglichkeiten der Literatur verwirbelt.“ Noch weiter geht Dirk Knipphals in der taz: „In diesem Frühjahrsprogramm (des Suhrkamp Verlags d. R.) muss die junge Autorin Annika Scheffel zwar fast allein das Gewicht des Anspruchs tragen, die deutsche Literatur zu erneuern“ (…). Angst machen ihr solche Sätze nicht. „Aber ein bisschen gruselig ist es schon.“
Ursprünglich wollte Annika Scheffel Schauspielerin werden. „Aber dafür war ich nicht gut genug.“ Ans Theater sollte es trotzdem gehen. Die gebürtige Hannoveranerin entschied sich für ein Studium der angewandten Theaterwissenschaft an der Universität Gießen. „Ich wollte in jedem Fall etwas Kreatives machen.“ Dass es in Richtung Schreiben gehen würde, wusste sie damals noch nicht. Parallel zum Studium schrieb sie „Ben“, der sie bis zum Examen begleiten sollte. Nach der akademischen Ausbildung, die kein klares Berufsziel vorgegeben hatte, musste Annika Scheffel erst einmal herausfinden, wie es weitergehen sollte. Ein Stipendium der Drehbuchwerkstatt München war die Antwort auf diese Frage. Das einjährige Seminar hat sich gelohnt: Die Autorin wurde als Drehbuchschreiberin für Telenovelas in Potsdam engagiert. „Das war unheimlich anstrengend, weil man die ganze Zeit im Team arbeitet und sich nur mit der Welt der Fernsehserien beschäftigt.“ Aber Spaß gemacht hat es.
Den Vertrag mit dem Suhrkamp Verlag verdankt sie einer Literaturagentin mit ausgezeichneten Kontakten. Gewiss, „Ben“ hätte die Suche nach einem Verlag erleichtert; aber ein Garant für die Veröffentlichung ihres neuen Werkes war das Debüt nicht. „Außerdem ist es gut, wenn das Verhältnis zwischen Lektor und Autor nicht von Vertragsverhandlungen beeinflusst wird.“ Die Zusammenarbeit mit ihrem Lektor hat der Schriftstellerin viel Freude gemacht. „Ich bin nicht so eitel zu denken, dass mein Manuskript nach dem Schreiben wirklich abgeschlossen ist. Im Gegenteil, das war eine große Bereicherung.“
Zwei Jahre hat Annika Scheffel an ihrem neuen Buch gearbeitet. Die meiste Zeit davon in einem Café in der Kirchstraße, wo es immer noch ruhiger war als zu Hause mit dem Geräuschpegel ihres neun Monate alten Sohnes. Wichtig ist der Moabiter Schriftstellerin nicht nur ein Ort für das konzentrierte Arbeiten, sondern auch der Kontakt zur Außenwelt. Sie möchte nicht im Elfenbeinturm sitzen. „Ich muss unter Menschen sein.“ Wenn die ersten Kapitel zu Papier gebracht sind, kommt der erste Leser ins Spiel: ihr Mann, der Politikwissenschaft studiert hat. Nach und nach werden einige Freunde ins Geschehen eingebunden. „Es ist wichtig zu wissen, ob meine Meinung hinsichtlich der Wirkung des Manuskripts mit der Wahrnehmung anderer Menschen übereinstimmt.“
Ideen für neue Bücher oder Drehbücher sammelt Annika Scheffel meistens über Jahre hinweg. „Das kann ewig lange schwelen.“ So ging es auch mit dem Stoff für den neuen Roman. Er handelt von einem Dorf, das einem Stausee weichen soll, wogegen die Bewohner sich wehren. Von Stauseen erzählte ihr die Großmutter das erste Mal. Viele Jahre später erlebte sie in der Lausitz die Realität zu diesen Geschichten; die Realität von Orten, die verschwinden sollen. „Danach war klar, dass ich die Idee jetzt umsetzen musste.“ Mehr ist der jungen Autorin zu Beginn des Schreibens nicht klar. Erst recht nicht, wie die Geschichte ausgehen wird. Annika Scheffel hat auch keinen Fahrplan mit festgelegten Figuren. Sie fängt einfach an und wartet, wem sie da im Laufe der Zeit begegnen wird. Den Schreibprozess erlebt sie wie eine Bühne. Dort treten ihre Protagonisten auf, von denen sie am Anfang nur eine grobe Vorstellung hat. Wie sieht der aus, was ist das für ein Typ? Mit der Zeit bekommen die Personen Konturen und werden immer vertrauter.
„Beim Schreiben komme ich in eine völlig andere, von mir geschaffene Welt, in der ich mich verlieren, und in der ich mit meinen Figuren Dinge erleben kann, die ich in der Realität nicht erlebe“, sagt Annika Scheffel. Zudem eröffnet es ihr die Möglichkeit, sich zu Dingen zu äußern, für die sie keine andere Ausdrucksform findet. Gewiss, ein Sendungsbedürfnis ist auch dabei, räumt sie ein. „Jedoch möchte ich auf keinen Fall moralisieren. Das kann und will ich mir nicht erlauben.“ Zurzeit arbeitet sie an einem Skript für einen Kinderfilm. Eine Produktionsfirma ist bereits gefunden. Umsetzen lässt sich das Projekt allerdings nur, wenn ein Verleih und Geldgeber hinzukommen. Zuvor geht es jedoch darum, den Verkauf des neuen Romans in Fahrt zu bringen. Seit Ende Februar ist die Schriftstellerin auf einer Lesetour, die sie unter anderem nach Hamburg, München, Köln, Leipzig, Wiesbaden und Frankfurt am Main führt.
Im Oktober 2009 war Annika Scheffel zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres zur richtigen Zeit am richtigen Ort: in Moabit, wo in der Spenerstraße gerade diese schöne Wohnung freigeworden war. „Damals brauchte ich das krasse Gegenteil zu Gießen.“ Das hat sie gefunden: „Die Stadt passt zu mir, sie nimmt mich auf. Und Moabit ist eine ganz tolle Ecke von Berlin.“
Text: Martin Blath, Fotos: Martin Ciesielski
Zuerst erschienen in: Moabit! – Das Magazin für die Insel, März 2013
Lesung und Gespräch mit Annika Scheffel am 27. März um 20 Uhr in Potsdam, Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47.