Moabiter Unruhen 1910
Am Samstag, den 25. September führt eine DenkMalTour zu den Spuren der „Moabiter Unruhen“ vom September 1910, die am 19. September vor 100 Jahren von einem Streik in einer Kohlenhandlung ausgelöst wurden. Die Stadtteilführung mit Dr. Nick Brauns (Historiker und Vorsitzender des Hans-Litten–Archivs) wird organisiert von den NaturFreunden Berlin in Zusammenarbeit mit der Hellen Panke e.V. Treffpunkt ist um 14 Uhr: Beusselstraße/Ecke Sickingenstraße (Kosten: 1,50 Euro). Es gibt noch viele weitere Einzelheiten zu berichten, z. B. dass Polizeitruppen in der Reformationskirche lagerten, weshalb auch die Kirchenfenster zu Bruch gingen.
MoabitOnline bedankt sich bei Nick Brauns, der uns seinen Artikel aus der Tageszeitung Junge Welt von diesem Wochenende zur Verfügung stellt. Ein weiteres Dokument zum Kohlenarbeiterstreik und den Straßenkämpfen in Moabit hat uns Ralf G. Landmesser zugeschickt: die Tagebuchaufzeichnung von Erich Mühsam vom 29. September 1910.
Vor 100 Jahren kam es in Berlin zu tagelangen Straßenkämpfen mit der Polizei
„Um Pfennige kämpften wir damals – um Pfennige, die uns bitter zum Leben fehlten für Brot und Margarine, für Milch für mein Sechstes. Wir wehrten uns mit nackten Fäusten gegen die schießwütigen Streikbrecher und ihre säbelrasselnden Beschützer“, schildert ein Arbeiter die tagelangen sozialen Unruhen im Berliner Stadtteil Moabit im September 1910. Kaum ein anderes Berliner Viertel war so von Arbeitern dominiert wie das westliche Moabit, wo sich im Beusselkiez Großunternehmen wie der Waffenhersteller Loewe und der Elektrokonzern AEG angesiedelt hatten.
Auslöser der „Moabiter Unruhen“ war ein Streik von 136 Kohlearbeitern und Kutschern bei der Kohlehandlung Kupfer & Co. in der Sickingenstraße ab dem 19. September. Angesichts eines deutlichen Preisanstiegs für Lebensmittel forderten die Arbeiter eine Anhebung ihres seit Jahren nicht erhöhten Stundenlohns von 43 auf 50 Pfennig und die Kutscher ihres Wochenlohns von 30 auf 33 Mark. Die Geschäftsführung verweigerte jegliche Verhandlungen mit der Lohnkommission und hinterlegte die Arbeitspapiere der Streikenden bei der Polizei. Angestellte wurden als Streikbrecher eingesetzt. „Die Kohlenwagen der Firma werden von acht berittenen Schutzleuten eskortiert, zu denen sich noch einige Schutzleute zu Fuß gesellen. Dienstag morgen verließen sechs Kohlenwagen der Firma den Platz, die von etwa fünfzig Berittenen und fünfzig Schutzleuten zu Fuß begleitet wurden“, berichtete die sozialdemokratische Tageszeitung Vorwärts. Kupfer heuerte auch gewerbsmäßige Streikbrecher an, die mit Pistolen bewaffnet wurden. „Ick breche jeden Streik“, rühmte sich der Organisator der berüchtigten „Hintze-Garde“ seiner Schlägertrupps. „Wenn ick mir meine Leute aussuche, seh’ ick erst druff, det se ne jute Handschrift schreiben mit de Ballkelle, det ist die Hauptsache, denn keß und kiebig missen wir sind.“ Nachts rissen die Streikenden das Straßenpflaster vor den Kohlenlagern auf, um den Transport zu verhindern. Die Solidarität der Bevölkerung mit den Streikenden war so groß, daß ein Kaufhaus an der Turmstraße nach der Plünderung eines Schaukastens durch aufgebrachte junge Frauen auf einem Plakat verkünden mußte, keine Streikbrecher mit Lebensmitteln und Schlafdecken zu beliefern.
Als Streikposten am 24. September einem „Arbeitswilligen“ die Kohlen vom Wagen holten, zog dieser eine Pistole und schoß wild um sich. Doch anstatt gegen den Schützen vorzugehen, schritt die anwesende Polizei mit gezogenem Säbel gegen die empörte Bevölkerung ein, die sich mit Flaschen- und Steinwürfen wehrte. Der Ruhrindustrielle Hugo Stinnes, zu dessen Wirtschaftsimperium die Kohlenhandlung Kupfer gehörte, bat in einem Telegramm an den preußischen Innenminister „dringend um Gestellung ausreichenden polizeilichen Schutzes“. Die Zahl der eingesetzten Polizisten wurde auf 1000 erhöht. „Durch Moabit wurde ein dichter Polizeikordon gezogen. Die Sickingen-, Rostocker-, Berlichingenstraße waren vollgepfropft mit Blauen“, schilderte ein Arbeiter. „Kriminalpolizei mischte sich in Arbeiterkleidung unter die Ansammlungen.“
Exzessive Polizeigewalt
Nach Zusammenstößen von Polizisten und Streikbrechern mit Arbeitern von Loewe und AEG, die sich mit dem Kohlenarbeiterstreik solidarisiert hatten, eskalierten die Auseinandersetzungen immer weiter. An den bis zum 29. September dauernden Straßenkämpfen, bei denen es zu Plünderungen von Geschäften und Gastwirtschaften kam, beteiligten sich nach polizeilichen Schätzungen 20000 bis 30000 Personen. Vor allem bei der „Schlacht in der Rostockerstraße“ ging in der Nacht auf den 28. September ein Hagel von Blumentöpfen und Geschirr aus den Fenstern auf die Polizei nieder, die den Belagerungszustand über den Beusselkiez verhängt hatte. Ein Augenzeuge – ein Monarchist – schilderte später: „Zwischen 12 und ein Uhr nachts ertönte plötzlich auf der Straße lautes Schreien. (…) Wir sahen mehrere Leute, die über den Straßendamm flüchteten und von Schutzleuten mit gezogenem Säbel verfolgt wurden. An der Ecke wurde auf die Flüchtenden von hinten mit dem Säbel eingeschlagen. Als sie zu Boden stürzten, schlugen und stachen die Schutzleute auf die am Boden Liegenden wie toll ein.“
Verprügelt wurden auch vier britische und US-amerikanische Journalisten, die das Vorgehen der preußischen Polizei anschließend international bekannt machten. Auf ein erneutes Schreiben von Stinnes hin, der sogar den Einsatz der Armee forderte, hatte Polizeipräsident Traugott von Jagow Schießbefehl gegeben. „Und dann knallte es durch die Gegend, mitten hinein in die erregten Menschen, die weiter nichts taten, als ihre Lebensrechte zu verteidigen. Als es an diesem Abend still wurde, lagen zwei Arbeiter in ihrem Blute auf der Straße, und einige hundert Männer und Frauen waren verletzt“, schilderte ein Arbeiter.
Angesichts der polizeilichen Übermacht und der abwiegelnden Haltung des Transportarbeiterverbandes ging der Streik der Kohlenarbeiter verloren. An dem massenhaften spontanen Protest gegen Unternehmerwillkür und Polizeibrutalität hatten sich vor allem unorganisierte Arbeiter beteiligt. Die Führung der Berliner Sozialdemokratie, die sich gegenüber dem Kohlenarbeiterstreik passiv verhalten hatte, bot den Behörden angesichts der militanten Proteste dagegen an, „an der sofortigen Wiederherstellung der Ruhe mitzuarbeiten“.
Während der Vorwärts von „Polizeiunruhen“ schrieb und Sozialdemokraten auf reichsweiten Kundgebungen gegen Polizeiterror protestierten, wies die Parteiführung zugleich jede Verantwortung für die Unruhen zurück. Karl Liebknecht beschuldigte im preußischen Abgeordnetenhaus Lockspitzel der politischen Polizei, und der rechte Sozialdemokrat Eduard David distanzierte sich im Reichstag ausdrücklich vom „Janhagel“ (norddt. für Pöbel).
Der Versuch, durch die Anklage gewerkschaftlich oder in der Partei organisierter Arbeiter der Sozialdemokratie die Schuld zu geben, scheiterte. 14 von 18 wegen Landfriedensbruchs angeklagte Arbeiter erhielten in den folgenden Monaten eine vergleichsweise geringe Gesamtstrafe von 67einhalb Monaten Haft. Den Anwälten, darunter Theodor Liebknecht, Wolfgang Heine und Kurt Rosenfeld, war es gelungen, mit Hilfe zahlreicher Zeugen das Gericht von den Polizeiexzessen zu überzeugen. Der wegen eines Messerangriffs auf einen Polizisten zu dreieinhalb Jahren verurteilte Arbeiter Bock erhängte sich im Untersuchungsgefängnis – auf ihren Ruf bedacht, hatte die SPD sich geweigert, ihr im Vorwärts als „geistig minderwertiger Mensch“ tituliertes und mehrfach vorbestraftes Mitglied durch ihre Anwälte zu verteidigen.
Die Witwe eines durch Säbelhiebe getöteten Arbeiters kämpfte jahrelang um Schadensersatz. Die uniformierten Arbeitermörder galten als „nicht auffindbar“. Wenn „Neugierige“ zu Schaden gekommen seien, so sei das nicht zu vermeiden gewesen, tönte Jagow: „Der Ehrenschild unserer Schutzmannschaft ist rein. Sie hielt tadellose Manneszucht.“ 95 Polizisten erhielten für ihren Einsatz gegen die Bevölkerung eine Auszeichnung. Hugo Stinnes zeigte sich erkenntlich für die energische Verteidigung seiner Profite und spendete der Berliner Polizei 10000 Mark.
Quellentext: Der rechte Sozialdemokrat Eduard David distanziert sich im Reichstag vom „Janhagel“
„Uns kann der Herr Reichskanzler nicht den Vorwurf machen, daß wir den Janhagel (norddt. für Pöbel – d.Red.) nicht im Zaume hielten. Wir haben nicht die Macht dazu; die Macht dazu hat die Behörde. Wenn die es nicht fertigbringt, so trifft uns keine Schuld. Der Janhagel ist der Bodensatz der Gesellschaft, und daß sich ein solcher Bodensatz anhäuft in einer großen Stadt wie Berlin, daran sind wir nicht schuld, das ist das Produkt der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Tausende von Menschen kommen da unter die Räder der Gesellschaft, zum Teil infolge erblicher Belastung, Krankheit usw. Daß also in einer Großstadt Saufbrüder, Radaubrüder usw. sich herumtreiben, ist nicht unsere Schuld. Diesen Janhagel lassen wir uns nicht an die Rockschöße hängen, den behalten Sie gefälligst, die Sie die Verantwortlichkeit für diese Zustände tragen! Ich will nebenbei bemerken, unter diesen Radau- und Saufbrüdern befinden sich manche Persönlichkeiten, die, wenn sie nicht als arme Teufel auf die Welt gekommen wären, sondern als Söhne hochstehender Eltern, vielleicht in das Korps Borussia eingetreten wären und dort eine hervorragende Rolle spielten; denn da würde man dieses Radaumachen und Saufen als hohen Vorzug ansehen.“
(13.12.1910; Verhandlungen des Reichstages XII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 262, Berlin 1911, S.3638f.)
Text: Dr. Nick Brauns, erschienen in der Tageszeitung Junge Welt, 18./19. September 2010, Nr. 218
Bild: Die Unruhen in Berlin-Moabit, 1910. aus: London Illustrated News, 8. Oktober 1910, S. 551.
Nachtrag:
Eine weitere Quelle zum Kohlenarbeiterstreik 1910 aus einer 1961 erschienenen Broschüre der SED-Tiergarten: Das war Moabit findet sich hier. Auch die Bolle-Jungen streikten im Jahr 1910. Aro hat alle Texte dokumentiert.
Auch das Deutsche Historische Museum hat in der Ausstellung “Streik. Realität und Mythos” auf den Moabiter Aufstand Bezug genommen, Autor dieses Beitrags ist der Historiker Thomas Lindenberger, der in seiner Studie “Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914? ein äußerst detailreiches, wenn auch schwer zu lesendes Werk vorgelegt hat. Wer einfach nur ein leicht zu lesendes Stimmungsbild dieser Zeit sucht, kann auf Bosetzkys Krimi „Kappe und die verkohlte Leiche“ zurückgreifen, der hier rezensiert ist.
https://moabitonline.de/50
danke Aro für den Hinweis auf die Kämpfe im Beusselkiez von 1932, in deinem Link oben.
Du hast die Broschüre der SED von 1961 über die Geschichte Tiergartens hier bei MoabitOnline wunderbar dokumentiert (die ersten Artikel unter Geschichte).
Der Bericht aus der Broschüre über den Kohlenarbeiterstreik 1910 findet sich hier:
https://moabitonline.de/44
und der über den Streik der Bolle-Jungen auch 1910 ist hier:
https://moabitonline.de/45
Man kann dann prima „weiter“ klicken und die nächsten Kapitel lesen!
Die Führung der Berliner Sozialdemokratie, die sich gegenüber dem Kohlenarbeiterstreik passiv verhalten hatte, bot den Behörden angesichts der militanten Proteste dagegen an, “an der sofortigen Wiederherstellung der Ruhe mitzuarbeiten” – ja, so sind se die Sozialdemokraten.
2 Jahre später, die „Weddinger Fleischrevolte“ – sehr interessant:
https://www.unverwertbar.org/aktuell/2020/5533/
Zitat aus dem Artikel „Weddinger Fleischrevolte“:
… „die mit niedrigen Löhnen abgespeist, in zu teuren … Mietskasernen hausend“ …
Nach über 100 Jahren sind wir dank einer versagenden Politik genau dort wieder angekommen, denn ca. 50 % aller Berliner Haushalte haben heute ein Anrecht auf einen Wohnberechtigungsschein, was nichts anderes heißt, als dass Löhne und Mieten zu weit auseinander liegen.