Tagebuch E. Mühsam zum Moabiter Kohlenarbeiteraufstand
Vor einiger Zeit hat MoabitOnline seine Leserinnen und Leser dazu aufgerufen Romane, Erzählungen, Gedichte, die in Moabit spielen, hier als Gastautoren zu präsentieren. Besonders viel ist noch nicht zusammengekommen (unten eine Reihe Links zu den einzelnen Artikeln).
Den folgenden Text aus dem Tagebuch von Erich Mühsam veröffentlichen wir aus aktuell historischem Anlass. Im September vor 100 Jahren herrschte im Beusselkiez der Ausnahmezustand mit tagelangen Straßenkämpfen. Die Zeit ging als Moabiter Unruhen von 1910 in die Geschichte ein. Unser Dank geht an Ralf G. Landmesser für diesen Fund, ein wunderbarer Nachtrag zu der Veranstaltung 13 Stunden Mühsam im Zellengefängnis!
München, Donnerstag, d. 29. September 1910 [Erich Mühsam zum Moabiter Kohlenarbeiteraufstand, Tagebuch]
Es ist etwas Erfreuliches aus der Zeitgeschichte zu vermerken. In Berlin haben große Zusammenrottungen von Arbeitern und Frauen stattgefunden, die mit den Streikbrechern bei einem Moabiter Kohlenarbeiteraufstand Händel gesucht haben. Es ist zu Schießereien gekommen, die Menge hat das große Polizeiaufgebot angegriffen. — Eben fährt, wie zur Illustration der freudigen Gefühle, die mich angesichts der Volksenergie beseelen, unter großem Gepränge, an der Spitze laut blasend, eine berittene Musikkapelle, eine Batterie Artillerie unter meinem Fenster vorbei, ein endloser Zug von Kanonen und Pferden, deren Rasseln und Trappeln meinen Schreibtisch erschüttert. Das Volk bleibt gaffend stehen. Es scheint sich wenig Gedanken darüber zu machen, mit wessen Geld, zu wessen Schaden und auf wessen Knochen diese Mordinstrumente entladen werden könnten. Gott sei Dank, der ekle Zug ist vorbei…
Also in Berlin hat es richtige Straßenrevolten gegeben, eine Kirche wurde von der Menge gestürmt, es wurde aus den Fenstern geschossen, Frauen haben in ihre Häuser eindringende Polizisten — die unter persönlichem Kommando des bemerkenswerten Polizeipräsidenten v. Jagow (»ich warne Neugierige«) stehen — angegriffen, eine warf solchen Burschen eine brennende Petroleumlampe an den Kopf — kurzum: einmal ein deutlicher Beweis, daß sich auch deutsche Proletarier nicht mehr alles bieten lassen. Grauenhaft ist der Gedanke an die Strafprozesse, die den Exzessen folgen werden. Es wird viele Jahre Zuchthaus geben, und natürlich macht die »liberale« Lumpenpresse vom Schlage der ›Münchner Neuesten Nachrichten‹ schon jetzt scharf. Aber trotzdem: Man kann von solchen Vorfällen ermutigt werden, wieder Vertrauen fassen zu den guten freiheitlichen Instinkten des Volkes. Besonders beglückend ist die Lehre, die sich aus der Tatsache ergibt, daß die Arbeiter so hoch über ihre Führer hinausgewachsen sind, daß sie es wagen, ihren jämmerlichen sozialdemokratischen Leithammeln diese Unannehmlichkeit zu bereiten. Wieder bestätigt sich mir, was ich immer wußte: daß die Berliner Arbeiterschaft die beste, männlichste, selbständigste und freiheitlichste in Deutschland ist.[…]
Hier findet man die Tagebücher von E. Mühsam digital.
Die oben versprochene Linkliste zu Moabit in der Literatur auf MoabitOnline:
Wolfgang Bardorf, Meine Jugend in Moabit, aus seinen Erinnerungen
Horst Bosetzky, Kappe und die verkohlte Leiche. Dieser Krimi spielt während der Moabiter Unruhen 1910. Rezension
Petra Gabriel, Alemannischer Totentanz, Textprobe aus der LiesSte
Uli Hannemann, Die Moabiterin. Text der Kurzgeschichte
3 Spaziergänge von Diether Huhn: Von Claire zu Waldoff / Lübeck, Tucholsky, Ulk / Sich Moabit reinziehen
Gertrude Kölbach-Arabu: Baum – Schuhbaum, Gedicht über den Baum auf dem Paech-Brot-Areal und Wohnen und Arbeiten in Moabit, über eine Diskussionsveranstaltung zum Bau des Hamberger Großmarktes
Ralf G. Landmesser, Klara Franke / Lehrter Straße, Gedichte in Berliner Mundart
Nadja Messerschmidt, Alg II / Berlichingenstraße, Texte zur Arbeitslosigkeit
Natalie N., Das Fenster zum Hof
danke für den informativen und wichtigen artikel, als neu-moabiterin interessiert es uns besonders, und e.m. war so eine wichtige person
Es wäre mal wieder Zeit für einen kritischen Kopf in Moabit, der den Ämtern und der Politik Bescheid sagt.