In jeder Hinsicht ein Erlebnis
Ich bin ein alter Mensch. Ich gehe nicht oft ins Theater. Die beeindruckendsten, bleibenden Theatererinnerungen meines Lebens hatte ich in kleinen, alternativen, experimentellen Theatern.
Da ich als langjährige Moabiterin sträflicher weise noch nie in der Kulturfabrik in der Lehrter Straße gewesen war, wollte ich die gern kennenlernen und habe mir das Theaterstück „Nie fetzen – immer fetzen – jetzt fetzen“ des Fabriktheaters Moabit ausgesucht.
Angekündigt war eine Vorstellung in drei Teilen an drei aufeinanderfolgenden Abenden vom 09. bis 11. Mai 2025. Also habe ich mich in dem alten, etwas heruntergekommenen Fabrikgebäude in die Schlange der Wartenden eingereiht und bin mit dieser Schlange die lange Treppe hoch gekrochen. An der Kasse habe ich gleich Karten für alle drei Teile des Stücks gekauft. Den Preis konnte man weitgehend selbst bestimmen.
Eine Bühne suchte ich vergeblich in dem langgezogenen, rechteckigen, dunklen Theaterraum. An einer Längsseite standen Stühle, die leider alle schon vom Vorderteil der Schlange belegt waren. Es lagen aber im Raum Sitzkissen verteilt, so dass ich alte Frau mich auf einem großen Kissen ziemlich in der Mitte des Raumes niederließ.
Die Länge des Raumes war durch diagonal gestellte, halb durchsichtige Screens unterteilt, auf die jeweils Teile der Vorstellung projiziert wurden, so dass man das Geschehen aus allen Blickwinkeln verfolgen konnte. Wie sich herausstellte, spielte sich das Geschehen auch tatsächlich im gesamten Raum ab.
Ehe das Stück so richtig begann, bewegte sich eine dunkel gekleidete Gestalt ungelenk im vorderen Teil des Raumes herum und gab seltsame Sätze und Halbsätze von sich. Dabei machte sie roboterhafte, sich wiederholende Bewegungen, so dass ich dachte: „Na, die hat nach der Vorstellung ihr Gymnastikprogramm für heute mit Sicherheit absolviert“.
Nach und nach bevölkerte sich der Raum mit fantasievoll gekleideten Figuren. Sie hatten Namen, die denen griechischer Götter ähnelten, aber auch solche wie „Mittwoch“. Sie interagierten in ziemlich verwirrender Weise miteinander.
Im Verlauf des Stücks stellte sich heraus, dass Chronso „das Ei“ nicht nur verloren, sondern auch noch den Notfallcode für einen solchen Fall vergessen hatte. Das war eine Katastrophe, denn das Ei musste unbedingt aufgeladen werden, damit die Welt in gewohnter Weise weiterexistieren konnte. Alle anderen Figuren waren stinke sauer auf Chronso.
Besonders besorgt war verständlicherweise Mittwoch, bei dem es sich um eine Eintagsfliege handelte. Er flatterte hektisch umher und fragte die Zuschauer*innen, ob sie das Ei gesehen hätten. Als ich sagte, wir auf dem Sitzkissen brüteten es gerade aus, sah er unter dem Kissen nach und schwirrte verärgert ab, weil wir gar kein Ei hatten.
Währenddessen war ein fliegender Imbiss in Gestalt zweier Personen mit Bauchladen unterwegs und verkaufte den Zuschauern Kleinigkeiten gegen die Beantwortung einiger Fragen. Eine der Imbissbetreiberinnen war Hicks in einem blauen Gewand mit schwingenden Reifringen, die mit ihren hibbeligen Bewegungen mit zitterten, so dass ich als Zuschauerin fast selbst anfing, im Takt zu zucken. Hicks versuchte, ihre nüchterne Partnerin zu allerlei subversivem Unfug zu überreden.
Inzwischen wurde die roboterartige KI aus der Anfangsszene, die auf Äußerungen und Fragen ihrer menschlichen Partnerin naseweise Zitate berühmter Personen von sich gab, immer schwächer. Ähnlich erging es ihrer Partnerin. Die KI versuchte mit letzter Kraft, ihr einzureden, dass die beiden zusammen ein sehr starkes System bildeten.
Zwischen Chronso und der Totengöttin – so habe ich die Figur jedenfalls interpretiert – gab es derweil eine Auseinandersetzung. Sie hätten sich so gern geliebt, aber Chronso hatte Bedenken, da infolge ihres letzten Liebesaktes die Titanik untergegangen war.
Diese heimliche Liebesbeziehung war Chronsos offizieller Partnerin (Luna, Venus?) natürlich nicht verborgen geblieben, so dass sie einen Streit vom Zaun brach. Dieser führte dazu, dass beide sich einer Partnerschaftstherapie unterzogen. Die Psychologin forderte beide in typischem Psychologen-Sprech auf, ihre Gefühle zu äußern. Luna/Venus (?) sah gar nicht ein, warum Chronso sie für therapiebedürftig hielt, wo doch Chronso für den Verlust des Eis, das Fremdgehen und das ganze Chaos verantwortlich sei. Chronso hingegen beklagte sich resigniert, dass er mit der langweiligen und ermüdenden Aufgabe, jedem Lebewesen seine Zeit zuzuteilen, über die Jahrhunderte hinweg unterfordert sei und unter Depressionen leide.
Hicks versuchte währenddessen, ihre Partnerin von der Idee einer Revolution zu überzeugen. War sie etwa im Besitz des Eis? Die Partnerin ließ sich auf eine Diskussion ein und fragte am Schluss: „Und dann?“
Tja, was wäre denn dann nach einer Revolution?
Ich hingegen fragte mich, wieso es eigentlich noch zwei Fortsetzungen geben sollte. Mit der letzten Frage war doch eigentlich alles gesagt, oder?
Ziemlich verwirrt und erschlagen von den geheimnisvollen Geschehnissen, vielen Ideen und mehr oder weniger parallelen Handlungssträngen verließ ich nach ca. zweieinhalb Stunden Aufführung das Theater. Erst als ich einer Freundin von der Aufführung erzählte, habe ich gemerkt, wie ideenreich, witzig und doch ernst das Stück war und wie viel Spaß es mir gemacht hat.
Die Sache mit den beiden Folge-Vorstellungen klärte sich so: Ja, es war alles gesagt. Die beiden nächsten Aufführungen würden Wiederholungen sein, die aber durch die Interaktion mit den Zuschauern von jeder anderen Aufführung abweichen würden. Eigentlich seien drei Folgen geplant gewesen, aber während der sechswöchigen Vorbereitungszeit habe das Theaterkollektiv gemerkt, dass es sich damit übernommen habe. Deshalb habe es die drei Folgen zu einer Aufführung kondensiert.
Deswegen war die Aufführung also so dicht und lang gewesen!
Das Geld für die Tickets zu den beiden nicht aufgeführten „Folgen“ des Stücks bekam ich anstandslos zurück.
Ich würde gern mehr von dem Kollektiv sehen – mich würde interessieren, wie eine Aufführung aussieht, bei der das Kollektiv seine Ideen gebändigt und sich nicht übernommen hat.
Text: som (Name ist der Redaktion bekannt)