Künstler, Designer und Quartiersrat Hojin Kang
Von der „Utopie Moabit“, der virtuellen Friedensstatue und mehr
Wir treffen uns auf einen Kaffee im Atelier von Hojin Kang in der Gerhardtstraße. Es ist ein brütend heißer Sommertag, an dem man sehr froh ist, sich in den kühlen Souterrain-Räumen aufhalten zu können. Zum Quartiersmanagement Moabit-Ost (QM) kam er 2023. Zusammen mit seinem Kollegen Erik Freydank, der in diesem Gemeinschaftsatelier auch einen Schreibtisch gemietet hat, wollte er für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche einen Kurs im Bereich digitale Bildung anbieten.
Schwerpunkt „Augmented Reality“ (Erweiterte Realität)
2022 hatten die beiden Männer so etwas schon ehrenamtlich zusammen mit der Jugendeinrichtung Die Arche und Experience One im Wedding mit ukrainischen Jugendlichen veranstaltet. Es ging darum zu zeigen, wie einfach es ist, selbst digitale Inhalte zu erstellen. „Wir haben Charaktere gezeichnet, in 3-D modelliert und diese 3-D-Modelle in die ‚Augmented Reality‘ eingesetzt.“ Mit „Erweiterter Realität“ ist meist die bildliche Darstellung von Informationen gemeint, also die Ergänzung von Bildern oder Videos mit computergenerierten Zusatzinformationen oder virtuellen Objekten.
Dies geschieht durch Einblendungen. Mancher kennt das von Fußball-Übertragungen im Fernsehen, wenn Entfernungen bei Freistößen mithilfe von Kreisen oder Linien angezeigt werden. „Ich bleibe in der Realität und füge ihr etwas hinzu“, fasst es Hojin zusammen. Diese „Erweiterte Realität“ steht im Gegensatz zur virtuellen Welt, in der man abgeschirmt von der Wirklichkeit ist.
Vater, freischaffender Künstler und Quartiersrat Hojin
„Die Nachbarschaft entscheidet zusammen, welche Projekte in Zukunft gefördert werden sollen“ beschreibt er die Arbeit im Quartiersrat. Als er 2023 zum QM stieß, war er seit 2 Jahren Vater und hatte sich als freischaffender Künstler selbständig gemacht. „Das ist ein riesengroßes Abenteuer und absolut erfüllend, aus der Festanstellung herauszugehen. Ich habe dabei die volle Rückendeckung von meiner Partnerin“ Das QM-Team fragte Hojin danach, ob er sich auch im Quartiersrat von Moabit-Ost engagieren möchte. Seitdem ist er in diesem Gremium dabei. Zuvor arbeitete er direkt für das QM zusammen mit seinem Kollegen Erik Freydank. Im Auftrag des QMs entwickelte er das Projekt „Utopie Moabit“. Damit kann man – passend zum Jubiläum „15 Jahre QM in Moabit-Ost“ – mit den Mitteln der erweiterten Realität etwas über die QM-Arbeit erfahren. „In dieser Utopie geht es um ein buntes, fröhliches und grünes Moabit, in dem zum Beispiel Straßen begrünt werden und Heißluftballons herumfliegen“. Um das zu veranschaulichen, wurden drei Moabiter Straßen ausgesucht, in denen das QM verschiedene Projekte gefördert hat, und zwar die Lübecker, Lehrter und die Rathenower Straße. Konkretes Beispiel ist die Gemeinschaftswerkstatt 35 services.
„Utopie Moabit“ anschauen?
Wer sich die „Utopie Moabit“ anschauen mag, muss zunächst den QR-Code mit seinem Handy scannen. „Dann öffnet sich Deine Kamera und setzt das 3-D-Modell in die reale Welt, und Du siehst dann dieses Objekt.“ Das ist textlich schwer zu beschreiben, man sollte es einfach mal ausprobieren. „Schau mal,“ sagt Hojin: „da siehst Du zum Beispiel ein Hammer-Symbol. Das ist die Kiezwerkstatt in der Lehrter Straße. Geht man darauf, erfährt man Details zu dieser Werkstatt.“ Im August veranstaltet das QM-Team eine Kiezrallye, bei der man virtuell durch die drei Straßen von Moabit spazieren kann
Köln – Hamburg – Berlin
Hojin kam mit seinen 38 Jahren schon viel herum: 1986 geboren und aufgewachsen ist er als Sohn koreanischer Eltern in Köln-Delbrück. In Köln besuchte er samstags die koreanische Schule. Nach dem Abitur war er für drei Monate an der Sprachschule einer Universität in Südkorea. Zurück in Deutschland studierte an der HBK Saar in Saarbrücken Medienkunst und -design und arbeitete zwei Jahre lang bei einer Agentur in Hamburg. 2016 zog er wegen der Liebe zu einer Thüringerin und aufgrund eines spannenden Arbeitsangebotes nach Berlin. Fünf Jahre lang arbeitete Hojin hier für eine Agentur, die die interaktive Ausstellung im 2018 eröffneten „Futurium“ an der Spree konzipierte und betreute. Dort gibt es u.a. gestengesteuerte Interaktionen und LED-Installationen zu entdecken. Hojin wohnt mit Frau und seit 2021 einem kleinen Sohn in der Perleberger Straße. „Aus Moabit wollen wir auch nicht weg!“
Auf der Suche danach, mehr Sinn zu stiften
Parallel zu seiner Arbeit am „Futurium“ begann sein Interesse für die soziokulturelle Nachbarschaftsarbeit. „Desillusioniert von dem Agenturleben und weil ich etwas bewirken wollte“, erklärt er. Zunächst war er ehrenamtlich in einer Wohnungslosenunterkunft in der Lübecker Straße tätig. Dort half er bei Spiele-Abenden, beim Suppenfest und organisierte Filmabende für die Bewohner. Er kam dabei in Kontakt mit Leuten, die weder eine Mailadresse noch ein Handy besitzen, etwas dass für viele Menschen heutzutage unvorstellbar ist. „Dort habe ich mich dabei verhoben, Leuten bei ihrer Wohnungssuche zu helfen“, gesteht er ein. Parallel dazu begann Hojin damit, in einem Flüchtlingsheim zu arbeiten. Den jungen Männern dort fehlte körperliche Betätigung. Hojin, der seit 25 Jahren Taekwondo betreibt, gab sein Wissen und Können auf diesem Gebiet gern weiter und trainierte sie – aber auch Kinder – dort einmal pro Woche in dieser Kampfsportart.
Die koreanischen „Trostfrauen“ und die Moabiter Friedensstatue
Künstlerisch war Hojin 2024 bereits an zwei Gruppenausstellungen beteiligt: in Weimar mit eigenen Werken, und in Saarbrücken war er als Co-Kurator und Ausstellungsdesigner tätig. Von 2020 bis 2022 arbeitet er zusammen mit dem in Moabit ansässigen Korea-Verband. Dieser hat in der Quitzowstraße ein Museum für die koreanischen „Trostfrauen“ (Anmerkung MoabitOnline: nicht nur koreanische, sondern aus 14 Nationen) eingerichtet, bei dem Hojin als Art Director und Designer mitwirkte. Er war auch involviert, als die „Aktionsgruppe Trostfrauen“ auf dem Unionsplatz an der Birkenstraße Ecke Bremer Straße 2020 eine Friedensstatue einweihte. Als „Trostfrauen“ werden Frauen bezeichnet, die während des Zweiten Weltkrieges vom japanischen Militär in Kriegsbordellen zur Prostitution gezwungen wurden. Die Statue in Moabit hat Kontroversen zu „richtigen“ Erinnerungskultur zwischen dem Bezirk Mitte und der diplomatischen Ebene Japans ausgelöst. Hojin berichtet, dass die japanische Botschaft beim Bezirksbürgermeister interveniert hatte und forderte, dass die Statue abgebaut werden solle. Es gab dazu mehrere Gerichtsverfahren.
Durch die virtuelle Statue ist Gedenken weltweit möglich
Hojin hatte die Idee, im Falle einer wirklichen Entfernung der Statue eine virtuelle Statue anzufertigen, die nicht mehr entfernt werden kann. Bei einer Demonstration am Brandenburger Tor stellte er sein Projekt vor. Eine koreanische Reporterin war dabei, was dazu führte, dass die größten koreanischen Nachrichtensender darüber berichteten. Von Hawaii und New York bis zur Türkei und Spanien: „Es gab eine Art Explosion, über 100 Einsendungen trafen ein. Menschen hatten an vielen Stellen in der Welt unsere virtuelle Statue aufgestellt. Auch wenn die physische Statue in Moabit also weggenommen werden sollte, können wir der Trostfrauen virtuell oder digital gedenken.“ In der diesjährigen Kunstausstellung in Weimar, bei der es um das Thema „Verschwinden und wie Dinge Spuren hinterlassen“ ging, zeigte Hojin seine Arbeiten zur Moabiter Friedensstatue. Wie ist der aktuelle Stand der Statue? Wie es weitergeht, ist laut Hojin noch unklar. Er erzählt, dass Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner die japanische Außenministerin auf seiner Japanreise getroffen hat. Dort wurde vereinbart, dass es ein neues Denkmal geben soll, bei dem sich auch Japan einbringen kann.
Kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland und Korea
Hojin kann sich nicht vorstellen, in Korea zu leben, „denn ich bin kulturell schon sehr deutsch oder europäisch geprägt. Was Hierarchien und Autoritäten im Alltag und in der Arbeitswelt angeht, damit hätte ich ein großes Problem. Wer ist der Ranghöhere, welche sprachliche Höflichkeitsform muss man wählen, wem muss man zuerst einen Kaffee mit zwei Händen reichen – all sowas müsste ich erst erlernen.“ Dann zeigt er seine neuesten Werke. Darunter befindet sich ein Demokratie-Mundschutz aus Kunststoff. Aktuell arbeitet er daran, seine Idee zu einer Ausstellung in Berlin zu verwirklichen. Wir bleiben am Ball und werden gern darüber informieren, wenn sie spruchreif ist.
Mehr zum Projekt „Utopie Moabit“ erfährt man auf Instagram: #utopiemoabit
Kontakt zu Hojin Kang über https://www.hojinkang.com
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Text und Fotos, wenn nicht anders gekennzeichnet: © Gerald Backhaus 2024
Zuerst erschienen (mit mehr Fotos) auf der Webseite des QM Moabit-Ost, September-Interview