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Meine Nachbarin in der Pflege

Wer hinsieht, hat keine Macht. Wer Macht hat, sieht nicht hin.

Diese Geschichte kann ich nicht mehr in mir tragen. Und sie abschließend zu klären, schaffe ich auch nicht. Ich bin wütend und traurig. Es ist 6. Juli 2024. Meine ältere Nachbarin S ist jetzt in einer Demenz-Pflege-WG. Sie ist am letzten Februartag ins Krankenhaus gebracht worden. Ich habe drei Monate gebraucht, um herauszufinden, wo sie ist. Diese Pflege-WG wird vom Pflegedienst D betrieben, den meine Nachbarin Ende 2023 gekündigt hat. Rechnungen, die massenhaft Dienstleistungen enthielten, die nicht erbracht wurden, fehlende Verpflegung, keine Körperpflege, keine ärztliche Untersuchung trotz ihres sich verschlechternden Zustandes – sind einige Beispiele. Und nun ist sie wieder in den Klauen dieses Pflegedienstes gelandet. Bloß wie?

Diese Pflege-WG befindet sich in Rudow. Nach dieser langen Strecke erleide ich jedes Mal einen Schock, wenn ich meine Nachbarin S dort besuche. Heute war vorläufig das letzte Mal. Nicht, weil ich nicht mehr sehen kann, in welchem unendlich traurigen Zustand diese von allen verlassenen Menschen sind, sondern weil ich des Hauses verwiesen wurde. Der Grund wurde mir nicht genannt. Ich war kaum da, habe ein paar Sätze mit der Pflegerin ausgetauscht (die mich von Anfang an duzt und persönliche Fragen stellt), und habe mich bei S hingehockt (kein Stuhl). Es gab Abendessen. S sagte, sie freue sich sehr, mich zu sehen, und begann zu essen. Dann kam die Pflegerin, hatte irgendeine stellvertretende Tante am Telefon, die nach meinem Namen fragte und mir das Hausverbot aussprach, sie sei gesetzliche Betreuung. Ich antwortete, dass es nicht stimmen kann, weil ich im Austausch mit dem Amtsgericht bin. Das interessierte sie wiederum nicht. Mir wurde verkündet, die Tür stehe bereits offen. Ein anderer Bewohner, der neben uns saß, meinte: „Es muss
schlimm für S sein, dass Sie jetzt gehen.“ Also, ein Mensch, der für krank und dement erklärt worden ist, hat sofort verstanden, was gerade abgelaufen war. Die Pflegerin und ihre angebliche Leiterin sind nicht so weit gewesen.

Meine Nachbarin wurde von zwei Pflegediensten, aber hauptsächlich von uns, Nachbarinnen, versorgt. Der zuletzt zuständige Pflegedienst R hat sich für Arzttermine oder sonstige notwendigen Termine ebenfalls wenig zuständig gefühlt. Und da meine Nachbarin immer schlechter zu Fuß war und nicht in die Bank gehen und Geld holen konnte, haben sie für sie auch nur unregelmäßig eingekauft („Kein Geld – kein Einkauf“). Sie zur Bank mit dem Auto zu fahren, das jeder Pflegerin und jedem Pfleger zur Verfügung steht, sei ebenfalls nicht ihre Aufgabe gewesen. Zu essen gab es monatelang drei Mal am Tag Toast mit Käse und Schinken. Nicht mal Tee haben sie ihr einmal am Tag frisch aufgegossen. Die Leitung von R war unglaublich unfreundlich, wollte nichts von der nachbarschaftlichen Leistung sehen und missbilligte alles. Wir kümmerten uns um die Klärungen mit der Krankenkasse, dem Vermieter und sonstigen Dienstleistern, wir haben für sie Überweisungen getätigt sowie Einkäufe, Bestellungen, nächtliche und tägliche Dienste und eigentlich fast alles rund um die Uhr. Währenddessen, Achtung, jetzt kommt’s, gab es beim Pflegedienst D (der im Dezember 2023 gekündigt wurde) eine Frau E, die sich irgendwann im Herbst mir gegenüber als gesetzliche Betreuerin positioniert hat. Damals wusste ich nicht, dass so eine Aussage ohne Nachweis in Form eines Betreuerausweises nur zu bedeuten hat, dass jemand sich wichtig machen will. Frau E hat nämlich nicht dazu beigetragen, dass dem Pflegedienst D gekündigt wird oder dass die oben erwähnten Vorgänge erledigt werden. Uns und S gegenüber erzählte sie ausgedachte Geschichten. Wir haben sie wenig im Haus gesehen. Im Januar wollte
meine Nachbarin auch von E nichts wissen, die Verabschiedung war heftig.

Anschließend hat S mich um Hilfe mit der Klärung der Betreuung gebeten. Ein Brief per Post und eine Nachricht per E-Mail wurde an das Amtsgericht geschickt. Ich habe gefühlt Tausend Telefonate getätigt, um von der Betreuungsstelle Mitte endlich zu erfahren, dass diese E gar keine gesetzliche Betreuerin war. Ich war mehrmals auch mit der Senatsverwaltung für Pflege in Kontakt und um Hilfe gebeten, dort gibt es eine für solche Zwecke eingerichtete Beschwerdestelle. Nichts passierte. Der Pflegedienst R ging inzwischen soweit, dass sie meiner Nachbarin nach und nach ihre Wohnungs- und Briefkastenschlüssel abgenommen haben, weil sie es nötiger hätten, um die Pflege zu organisieren. Irgendwann hatte sie gar keine Schlüssel mehr. Auf die Bitte von S und auch von mir hin zuckte die stellvertretende Leiterin nur gleichgültig mit den Schultern. Ihre Schlüssel hat S nie wieder gesehen und konnte mehrere Wochen nun auch ihre Wohnung nicht mehr verlassen. „Warum darf ich meine Post nicht selber holen? Das ist doch privat.“ fragte mich S jeden Tag. Ich
war empört, dass es dazu kam, konnte aber auch damit nicht weiterhelfen. Rechtlich war es absolut unzulässig, aber anscheinend sind Gesetze nicht für Pflegedienste geschrieben.

Ich stelle mir Tausend Fragen. Warum reagierte das Amtsgericht seit Januar 2024 nicht, als meine Nachbarin einen Brief mit der Bitte um eine zeitnahe Bestellung einer Betreuung schickte? Wie konnte es dazu kommen, dass unsere S wieder beim Pflegedienst D gelandet ist? Warum behauptet Pflegedienst D, sie seien gesetzliche Betreuung, während die Betreuungsstelle des Amtsgerichts sagt, für S werde aktuell ein gesetzlicher Betreuer bestellt und dass es in den Akten vermerkt sei, sie wollte den Dienst D nicht? Mit welchem Recht sind Leute vom Pflegedienst D mehrmals in die Wohnung von S in ihrer Abwesenheit gekommen und dort Sachen geholt, wenn die Betreuungsstelle des Amtsgerichts sagt, niemand dürfe in ihre Wohnung, solange es gesetzlich nicht geregelt ist? Kann jemand genau wissen, was diese Menschen in der Wohnung gemacht haben? Wer holt alle paar Wochen die Post ab? Erst vor einem Monat (im Juni) erfuhr ich, dass der Bestellungsprozess zeitnah anfinge. Im Ernst? Nach einem halben Jahr Notzustand? Warum haben weder das Amtsgericht noch die Beschwerdestelle der Senatsverwaltung zur Aufklärung beigetragen und für Abhilfe gesorgt?

Ich bin sehr traurig und wütend, dass durch dieses Nicht-Hinsehen und Nicht-Handeln die Zeit verstrichen ist, in der sich der Zustand meiner Nachbarin sehr verschlechtert hat. Jetzt sitzt sie in einem Rollstuhl am Rande Berlins – im besten Fall am Tisch mit anderen Leidensgenoss:innen, ansonsten allein in ihrem dunklen Zimmer liegend, die einzige Unterhaltung – an der Wand der Wohnküche ein kaum hörbarer Fernseher in einer Sprache, die die Hälfte der Bewohner:innen nicht versteht. S ist kaum wiederzuerkennen, aber wenn ich sie an der Hand halte, ihr irgendwas erzähle und ins Gesicht schaue, ist sie immer wieder „zurück“, lächelt und sagt, sie freue sich, mich zu sehen. Es hätte alles anders kommen können, wenn die Entscheidungsträger:innen hinsehen und hinhören würden. S hat diesen Umgang nicht verdient. Niemand hat diesen Umgang verdient. Gibt es noch Hoffnung?

Gastautorin aus Moabit möchte anonym bleiben (Name ist der Redaktion bekannt)

3 Kommentare auf "Meine Nachbarin in der Pflege"

  1. 1
    Dr. Bertil Sander says:

    Liebe GastAutorin,

    „Gibt es noch Hoffnung?“ fragen Sie am Ende Ihres erschütternden Erlebnisberichts. Ich denke: Ja und und biete Ihnen ein Gespräch hierüber an. Lassen Sie sich, wenn Sie mögen, von der Redaktion meine mail-Adresse geben und schreiben Sie mich gerne an.

    Liebe Redaktion – geben Sie der GastAutorin bitte meine mail-Adresse, wenn Sie es möchte.

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