Der Moabiter Milchkrieg
Zu erzählen ist von der ersten preußischen Professorin (1912) und dem Moabiter Meiereibesitzer Carl Bolle. Beide zu ihrer Zeit bereits berühmte Zeitgenossen in ihren jeweiligen Tätigkeiten.
Lydia Rabinowitsch-Kempner war eine der ersten in Europa zum akademischen Studium zugelassenen Frauen. In Zürich promovierte sie 1894 zum Dr. phil.nat. und ging gleich darauf nach Berlin als Assistentin von Robert Koch an das Institut für Infektionskrankheiten. Schon zwei Jahre später war sie in wissenschaftlichen Kreisen so bekannt, dass sie einen Ruf als ordentliche Professorin in die USA bekam. Dort lehrte sie das Fach Bakteriologie und forschte in einem von ihr begründeten Institut über die Infektiosität der Milch tuberkulöser Rinder.
Noch zum Ende des 19. Jahrhunderts spielten Epidemien wie Cholera, Pocken, Thyphus und Tuberkulose eine große Rolle in den Krankenstatistiken der Bevölkerung. Vor allem Kinder erkrankten durch die beengten Wohnverhältnisse im Industriestandort Moabit an Lungentuberkulose sehr häufig. Bei ihren Forschungsarbeiten argwöhnte Lydia Rabinowitsch, dass auch die Milch tuberkulöser Rinder, damals ein großes Problem, für die Übertragung auf den Menschen, anders als bisher angenommen, verantwortlich war. Mit der Bestätigung des Verdachts durch ihre Forschungsergebnisse war zum ersten Mal der Nachweis gelungen, dass die Milch infizierter Kühe auch beim Menschen Tuberkulose auslösen kann. So berühmt geworden, kehrte sie nach Berlin zurück und wurde von Robert Koch und dem Magistrat mit der Untersuchung der in Berlin vertriebenen Milch beauftragt.
Der größte und leistungsfähigste Betrieb war die von Carl Bolle 1887 in Moabit gegründete Meierei Bolle in der Straße Alt-Moabit. Heute befinden sich auf dem großen Gelände das Innenministerium, ein Hotel, Restaurants und zwei Supermärkte.
Carl Bolle war ein in mehrfacher Hinsicht verdienstvoller Mann. Qualitätskontrolle bei Einkauf und Vertrieb, disziplinierte Arbeitsorganisation und soziales Engagement für seine 2.500 Arbeiter und unternehmerische Phantasie zeichneten ihn aus.
Als die Milchuntersuchung auf Tuberkelbakterien vom Magistrat in Auftrag gegeben wurde, legte sich ein dunkler Fleck auf die Unternehmensführung, wer auch immer das Täuschungsmanöver veranlasst hatte. Man händigte mehrfach Proben abgekochter Milch an das Institut aus. Rabinowitsch entdeckte schließlich den Schwindel und stellte Strafanzeige. Die Firma Bolle leugnete hartnäckig und es kam daraufhin zu einem sich lange hinziehenden Prozess, der von den Anwälten und der Presse verbissen begleitet wurde.
Als Rabinowitsch den Prozess schließlich gewann, ging die Episode als „Moabiter Milchkrieg“ in die Stadtgeschichte ein. Fortschrittliche und wichtige Folgerung aus dem Skandal waren Maßnahmen und Auflagen der Behörden für die Verarbeitung von Milch und Milchprodukten. Seit 1901 durfte nur noch staatlich kontrollierte, tuberkulosefreie Milch verkauft werden. Die Hygiene in Molkereien, die Pasteurisierung der Milch sind unmittelbares Verdienst der Arbeit und des Engagements von Lydia Rabinowitsch. 1912 verlieh ihr Kaiser Willhelm II. als erster Frau den Professorentitel. Sie heiratete den Assistenten von Robert Koch, Walter Kempner und, Ironie der Geschichte, sie ist die Mutter von Dr. Robert Kempner, dem späteren stellvertretenden Hauptankläger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1946.
Ein Jahr nach ihrer zwangsweisen Entlassung aus dem Moabiter Krankenhaus starb sie 1935 im Alter von 63 Jahren. Eine früh emanzipierte, politisch denkende Frau in Berlin. Carl Bolle starb 1910. Er hatte den größten milchverarbeitenden Betrieb Berlins in Moabit gegründet, ein modernes, erfolgreiches und schon früh sozial engagiertes Unternehmen, das nach seinem Tod in eine Aktiengesellschaft überführt wurde. Der frühe dunkle Fleck auf der Firmengeschichte, der Moabiter Milchkrieg, ist ihm sicher verziehen.
Text: Joachim Schulz, zuerst erschienen in LiesSte, Zeitung für den Stephankiez, Nr. 5, April 2008, www.stephankiez.de (nicht mehr online).
Beim Berliner Milchkrieg dagegen handelte es sich um einen Preiskrieg.
[Annette Vogt hat bei Luise Berlin den Milchskandal ausführlich beschrieben.]
Nachträge:
Ein Werbefilmchen aus den 1930er Jahren für Bolle-Milchprodukte.
Später mal in den 1950ern hat Günter Grass für Bolle geworben (Tagesspiegel).
2015 hat in der früheren Bolle-Kirche und dem Festsaal, erstere wurde 1919 in ein Kino umgewandelt (noch später Theater), der Saal zur Käseproduktion genutzt, gibt es seit Mitte 2015 die Bolle-Festsäle (war auch bei Facebook mit allen möglichen auch historischen Erinnerungen).
Am 105. Todestag wurde eine Berliner Gedenktafel für Carl Bolle enthüllt (Berliner Woche).
Eine Kolumne in der Berliner Morgenpost: Erinnerungen eines Wessi, der sich nicht zu fragen traute, was es mit Bolle auf sich hatte.
Ein Portrait Lydia Rabinowitsch-Kempner, eine Straße soll nach ihr benannt werden (Berliner Zeitung vom 7.3.2017, leider nicht mehr online).
Portrait Lydia Rabinowitsch-Kempner mit Bild und Gedenktafel in einem Zimmer des GSZM (Heimat Moabit).
Ärztekammer Berlin online über Berliner Ärztinnen der ersten Generation: Lydia Rabinowitsch-Kempner
Die Broschüre “Das Krankenhaus Moabit” vom Verein „Sie waren Nachbarn“ ist am 6. Juni 2024 erschienen. Mit dem Untertitel “Antisemitismus 1933 und heute” wird darin die Ausstellung des Vereins zur Geschichte des einstigen Krankenhauses beleuchtet. Außerdem dokumentiert die Broschüre einen Teil der Reaktionen auf den Brandanschlag gegen die Ausstellung. Die Broschüre hat 60 Seiten und ist kostenlos. Sie kann hier als PDF heruntergeladen werden. Anders als in diesem MoabitOnline-Artikel „Der Moabiter Milchkrieg“ heißt es in der Broschüre, dass Lydia Rabinowitsch-Kemper in Milch der Meierei Bolle Tuberkelbakterien nachweisen konnte (S. 9) und nicht, dass ihr abgekochte Milchproben zur Verfügung gestellt wurden und um diese Täuschung der Prozess, den sie gewann, geführt wurde.
[…] die von infizierten Kühen stammte. Doch die Firma Bolle leugnete das und so wurde der “Moabiter Milchkrieg” lange vor Gericht ausgetragen. In der Berliner Bevölkerung, die zu einem großen Teil durch […]