Thomas Schütt vom Karpatentheater und seine vielfältigen Projekte

Unser Treffpunkt ist ganz passend auf dem „Platz der Nachbarschaft“ in der Lehrter Straße. Wir sitzen draußen vor dem Café Zazza. Thomas Schütt hat mit seinem orangefarbenen Spazierstock einen Hingucker dabei, der natürlich Fragen provoziert. Dieser Stock ist ein Requisit aus seiner „Schule des Flanierens“, die auf französisch „ÉCOLEFLÂNEURS“ genannt wird und die er zusammen mit der Regisseurin Elke Schmid betreibt. Thomas Schütt ist freischaffender Dramaturg, zudem auch Performer, Philosoph und Autor. Er liebt das Gehen, Schauen und „schweigende Stadt-Genießen“, denn beim Flanieren mit der „ÉCOLEFLÂNEURS“ wird nicht gequatscht. „Manche Maler kommen so auf ihre Motive“, sagt er. Elke Schmid, die auch als Trainerin für „gutes Gehen“ wirkt, kennt Thomas Schütt aus seiner Zeit in Heidelberg, wo sie das Künstlerhaus zeitraumexit in Mannheim mit leitete.

Zusammen arbeiten sie seit dem Winter 2014/15 daran, das Flanieren in Berlin wieder bekannter und beliebter zu machen. Sie bieten Flaniertouren an, bei denen in Gruppen von bis zu vier Personen gemeinsam „ohne Route und ohne Ziel“ durch die Stadt spaziert, pardon: flaniert wird. Als Markenzeichen dienen den Flaneuren dabei die Flanierstöcke. Schmid und Schütt sammeln alte Exemplare aus Holz. Sie finden sie auf Dachböden oder kaufen sie auf Flohmärkten. Dann nehmen sie ab, was sie an den Stöcken stört, also Schilder, Wappen und Nägel. Sie schmirgeln alles ab und lackieren die Stöcke mit Signalfarben „für ihre neue Flaniergeschichte“. Mittlerweile besitzt ÉCOLEFLÂNEURS ein ganzes Arsenal von über 60 Stöcken, die sie im übrigen nicht als Stütze, sondern als Spielzeug und Taktstock beschreiben. 

Die digitale Lehrter Straße oder das utopische Dorf

Doch soll die Lehrter Straße im Mittelpunkt unseres Gespräches stehen, genauer gesagt das Projekt mit dem englischen Arbeitstitel „Tales of the Pavement“ (in etwa „Geschichten vom Gehweg“). Thomas Schütt nennt es insgeheim auch „Instant Neighbourhood“, was so viel wie zufällige und nicht zwangsläufige Nachbarschaft bedeuten soll. Der Titel ist schon ein Hinweis auf die internationale Ausrichtung dieses Projektes. Es wird vom 2005 gegründeten Karpatentheater realisiert, das seinen Namen dem aus der Ukraine stammenden bildenden Künstler, Bühnenbildner und Ausstatter Ivan Bazak bzw. dem Hochgebirge Karpaten verdankt. Das Karpatentheater mit Sitz in Kreuzberg bezeichnet sich selbst als interdisziplinäres Produktionskollektiv, das Kunstschaffende aus den darstellenden und bildenden Künsten vernetzt und so die Weichen für die gemeinsame Projektarbeit stellt. Als der Gründer Ivan Bazak sein Atelier 2017 in der Lehrter Straße nahe der Kulturfabrik hatte, saß Thomas Schütt ab und zu gemeinsam mit ihm vorm Atelier. Zu dieser Zeit gab es die ganzen Neubauten noch nicht. Thomas Schütt, der vom Mittelrhein nahe Koblenz stammt, in Heidelberg studierte und acht Jahre lang dort lebte, zog 2008 nach Berlin. Er lebte zunächst in Kreuzberg, bevor es ihn 2012 „wegen der tollen Wohnung“ nach Moabit in die Quitzowstraße verschlug. „Hier bin ich angekommen und gehöre ich hin,“ sagt er. Der selbsternannte „Vielseitigkeitsreiter“ berichtet gern über seine vielfältigen Tätigkeiten in der zeitgenössischen Tanz- und Theaterszene, auch über Ausflüge in die Installationskunst und die bildende Kunst, zusammen mit Gruppen wie Two Fish und den Tänzerinnen von Jee-Ae Lim. 

Lehrter Straße – ein dichter Mikrokosmos

Beim Beobachten der Leute im Umfeld des Ateliers von Ivan Bazak entflammten die beiden Männer für diesen dichten Mikrokosmos: „Auf der Lehrter Straße gab und gibt es eine sagenhafte Mischung und sehr viel Austausch. Das ist so willkommen heißend. Beispiellos und beispielhaft zugleich“, schwärmt Thomas Schütt. Mit ihrem Projekt der Digitalisierung der Straße bzw. des Kiezes, das vom Fonds Darstellende Künste gefördert wird, planen er und seine Mitstreiter „keine Kulturinvasion“ in Moabit, sondern eher das Gegenteil. Gefördert wird ein Prozess. Sie möchten Erzählerinnen und Erzähler aus dem Kiez selbst zu Wort kommen lassen, „ob das Susanne vom B-Laden oder Martin vom Café Moab“ ist. 2017 veranstaltete das Karpatentheater schon mal einen Festivaltag, bei dem die Erzählungen aus der Lehrter Straße in den Mittelpunkt gerückt wurden. Damals fing Thomas Schütt Feuer. Aktuell recherchiert er weitere Geschichten und führt Interviews. Die Erzähler entscheiden dann über die Form der jeweiligen Präsentation. „Wir rahmen also quasi deren Erzählungen“, so beschreibt er das Projekt, für das einzelne Gebäude wie die Kufa und der B-Laden in Modellgröße von bildenden Künstlern nachgebaut und in einer fiktiven Landschaft zueinander ausgerichtet werden. Dieses „utopische Dorf“ in Modellform wird mit der Videokamera gefilmt und dann ab Januar 2023 auf einer Webseite der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die ersten Visualisierungsideen waren 3-D-Animationen der Lehrter Straße als „Dorf für’s Netz“, doch dann entschied sich das Karpatentheater für den Modellbau und das Filmen. Auf der Webseite kann man sich dann „ähnlich wie bei Google Street View“ durch die Lehrter Straße navigieren, erklärt Thomas Schütt. Per Mausklick kommt man in die einzelnen Häuser hinein und startet dort einen neuen Film mit den Interviews der Akteure und taucht in deren Welten ein.

Von Kiew bis Mexico – Karpatentheater bringt die Lehrter Straße in die Welt

Neben einem festen Kern an Kulturschaffenden aus Berlin und Köln arbeitet das Karpatentheater bei seinen Projekten immer auch eng mit Künstlern aus dem europäischen Ausland zusammen, so auch beim laufenden Projekt. Das bedeutet hier konkret, dass Straßen und Kieze in anderen Metropolen, die ihrer Energie nach Nachbarstraße sind, integriert werden. Los geht’s, was beim Trägernamen Karpatentheater nur folgerichtig ist, mit Arealen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. „Wir kuratieren Orte und motivieren dort Menschen, die ihre Geschichten erzählen möchten“, so Thomas Schütt, „und vielleicht gibt es die Lehrter Straße überall auf der Welt, ob in Kiew, Mexico City oder London. Unser Ziel ist ein Netzwerk der auf der Webseite und in den Filmen abgebildeten Menschen.“ Das soll auch nach Ende der Förderperiode genutzt und erweitert werden. „Auch nach der Veröffentlichung im Januar 2023 kann man in das globale Dorf einziehen. Wir haben einen Programmierer, der die Webseite künftig weiter betreut. Außerdem bemühen wir uns gerade um eine Anschlussförderung.“ 

Mitmachen?

Wer sich an dem Projekt für eine digitale Lehrter Straße beteiligen mag, wer in und um die Lehrter Straße lebt oder arbeitet und erzählen möchte, kann sich bis Mitte November gern bei Thomas Schütt und dem Karpatentheater melden 

Kontakt: schuett@karpatentheater.com

Kontakt zur ÉCOLEFLÂNEURS: ecole.flaneurs@gmx.de 

Text & Porträt-Fotos: © Gerald Backhaus 2022, alle weiteren Bilder, Logo und Flyer stammen von Thomas Schütt

Zuerst erschienen (mit weiteren Fotos) auf der Webseite des QM Moabit-Ost: http://www.moabit-ost.de/aktuelles/interviews-von-kiezredakteur-gerald-backhaus/november-interview-thomas-schuett-karpatentheater-digitale-lehrter-strasse/