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Der Weg ist das Ziel

Nachruf auf Jörn Jensen – Bürgermeister des Bezirks Tiergarten

Geboren im damaligen Westpreußen, führte das Leben Jörn Jensen durch viele Orte. Er verbrachte seine Kindheit in Sachsen, zog dann mit seinen Eltern nach Dänemark und später nach Husum. Mit zwanzig kam er nach Berlin, studierte Sport und Germanistik auf Lehramt und unterrichtete dann als Lehrer in Neukölln. In den achtziger Jahren lebte er mehrere Jahre in China und gab dort Deutsch­unterricht an der Hochschule in Wuhan. Als aktiver Gewerkschafter wurde er 1989 Bezirks­verordneter für die Alternative Liste in Steglitz, später Volks­bildungs­stadtrat in Tiergarten und 1995 der erste grüne Bezirks­bürger­meister in Berlin. Zeit­gleich mit der Bezirks­fusion 2001 ging er zwar in Pension, blieb aber dennoch lange Jahre weiter politisch aktiv: als Vorstands­mitglied beim Moabiter Ratschlag, im Bildungs­werk für alternative Kommunal­politik, im Städte­partner­schafts­verein und bei seiner Partei vor Ort.

Als Jörn Jensen einmal gefragt wurde, warum es Kinder gebe, die in der dritten Klasse noch nicht richtig ihren Namen schreiben können, antwortete der damalige Volks­bildungs­stadtrat: „Schüler in diesem Alter brauchen eben wenigstens einmal in der Stunde einen persön­lichen Zuspruch, dann passiert sowas nicht.“ Dies war nicht nur ein Plädoyer für kleinere Klassen, sondern als Lehrer wusste Jörn Jensen auch, worauf es im Leben und in der Schule ankommt: auf persön­liche Aner­ken­nung und Auf­merk­sam­keit. Jörn Jensen blieb auch nach seinem Aus­scheiden aus dem Schul­dienst im besten Sinne Lehrer bis an sein Lebens­ende.

Als der engagierte Päda­goge Jörn Jensen Bezirks­bürger­meister wurde, verstanden einige seine Wahl nicht als eine wie jede andere dieser Art, denn ein Grüner und dazu noch linker Bürger­meister stellte in einer jahr­zehnte­lang konser­vativ geprägten Verwal­tung durchaus ein Novum dar und dürfte einige Bedenken ausge­löst haben. Unbegrün­dete, wie sich zeigen sollte. Jedenfalls gelang es ihm ziemlich schnell, dass sich die Verwal­tung an eine grüne Verwaltungs­spitze gewöhnte und fest­stellte, dass sich auch mit ihr ver­läss­lich regieren lässt. Die Beschäf­tigten in seinem Amt bekamen von ihm hand­geschrie­bene Geburts­tags- oder Weih­nachts­grüße. Eine Tradition, die er auch in seinen wei­teren Wirkungs­kreisen beibe­hielt und später online bis zuletzt weiter­führte. Seinen Dienst­wagen schaffte Jörn Jensen ab. Das war nicht nur ein ökolo­gisches Signal, sondern er verstand sich als Verwal­tungs­chef als primus inter pares. Ihm war es ein politisches Anliegen, Vorbild zu sein und soziale Fragen mit dem Ökologischen zu verbinden.

Andere Menschen wahrzunehmen und ihre Leistungen zu würdigen, hatte für ihn stets hohe Priorität. Mit dieser Haltung hat er als Bürgermeister auch die Erinnerungskultur in Tiergarten entscheidend mitgeprägt. Dabei war es ihm besonders wichtig, die lokalen Initiativen bei der Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand einzubeziehen. Er hat dafür gesorgt, dass aus dem Parkplatz vor dem Rathaus ein Platz mit Aufenthaltsqualität wurde, der heute nach der Vertrauten Rosa Luxemburgs und späteren jüdischen Widerstandskämpferin Mathilde Jacob benannt ist, die 1943 in Theresienstadt ermordet wurde.

Am 18. März 1998 brachten Joachim Zeller (oben) und Jörn Jensen (unten) das Schild für den „Platz des 18. März 1848“ an, das der Senat von Berlin wieder entfernen ließ. Foto: Michael Bujak (mit freundlicher Genehmigung des Fotografen)

Die Erinnerung an den März­auf­stand 1848 war ihm eine besondere Herzens­ange­legen­heit. Das Gedenken an die März­gefal­lenen, aber auch die letzt­lich geschei­terte Revo­lution machen viel­leicht seine Sicht­weise deutlich: Wenn der Erfolg der Barri­kaden­kämpfe auch nur von kurzer Dauer war, so war die Frei­heits­sehn­sucht doch unaus­lösch­lich ent­brannt und führte letzt­lich zu einer organi­sier­ten Oppo­sition im Land. Lange kämpfte Jörn Jensen mit dem dama­ligen Bezirks­bürger­meister von Mitte, Joachim Zeller (CDU), dafür, den Platz vor dem Branden­burger Tor in „Platz des 18. März“ umzu­be­nennen. Bereits 1998 brachten sie ein ent­sprech­endes Schild vor dem Bran­den­bur­ger Tor an, welches der Senat jedoch wieder ent­fernen ließ. Als eine seiner letzten Amts­hand­lungen konnte Jörn Jensen im Juni 2000 den Platz dann doch mit seinem Mit­streiter feier­lich umbe­nennen.

Natürlich wusste Jörn Jensen, dass es den Auf­stän­dischen damals nicht gelungen war, Errungen­schaften jener März­tage wie die Auf­hebung der Presse­zensur lange auf­recht­zu­erhalten. Viel­leicht erklärt sich daraus auch sein ausge­prägter Wille zu Forma­lismus in Geschäfts­ordnungs­debatten. Was einmal politisch erkämpft und gewonnen war, durfte nicht wieder aufge­geben werden. Er hielt sich dabei strikt an demo­kra­tische Spiel­regeln, die anderen oft neben­sächlich vorkamen. Aber für ihn waren die Formalia eine Versicherung für den Bestand des demokratischen Zusammenlebens. Darüber konnte man mit ihm heftig streiten.

Jörn Jensen schied mit der Bezirksfusion 2001 aus dem Amt. Er hatte immer die Chancen in der Bezirksfusion gesehen und diese durch enge Zusammenarbeit zwischen den Altbezirken Mitte, Tiergarten und Wedding mit vorangetrieben. Ihm war wohl klar, dass ihn die Bezirksfusion sein Amt kosten würde, dennoch bereitete er sie seit Amtsantritt mit vor. In einem Interview mit Elke Fenster sagte er „Oberstes Ziel ist es Dienstleistungen zu verbessern. Wenn wir dabei Geld einsparen können, nehmen wir das gerne mit.“

Mit seinem Amtskollegen aus Mitte hat er gleich von Anfang an geplant, wie Strukturen zusammengelegt werden können und wie jeder der Altbezirke Schwerpunktbereiche bilden könnte. Dass das Krankenhaus Moabit nicht erhalten werden konnte, hat er später selbstkritisch auf der Negativseite seiner Amtszeit festgehalten. Aber Jörn Jensen hat mit dazu beigetragen, dass bei den Verteilungskämpfen in seiner Amtszeit eine starke, in der Nachbarschaft verankerte soziale Infrastruktur erhalten blieb.

Wenn er ein politisches Anliegen verfolgte oder unterstütze und knapp die Mehrheit verfehlte, pflegte Jörn Jensen zu sagen: „Der Weg ist das Ziel!“ Und er hatte damit im Konkreten meist immer recht, denn das Thema war auf der Agenda, und ein paar Jahre später konnte seine Position durchaus Mehrheitsmeinung in der Partei sein. Wenn er einen politischen Erfolg erzielt hatte, konnte man in seinem Gesicht strahlende Augen und ein verschmitztes Lächeln erkennen. Als habe er sagen wollen: So, jetzt haben wir es denen aber gezeigt!

Das Dranbleiben an Themen, die ihm wichtig waren, gepaart mit Gelassenheit, waren seine Stärke und machten ihn aus. Menschen dazu zu motivieren, sich politisch einzubringen und nicht schnell wieder aufzugeben, wenn etwas nicht gleich gelang, war sein Credo. Tiergarten hat nicht nur seinen letzten Bürgermeister verloren, sondern auch einen liebevollen Lehrer. Gedenken wir seiner so, wie er anderer gedacht hat.

Gastautor: Tilo Siewer, Foto: Michael Bujak,
Bild: Bärbel Rothhaar (Öl auf Filzpappe, 120 x 100 cm, von 2012)

Nachtrag:
Die perfekte Ergänzung dieses politischen Nachrufs von Tilo Siewer, der sehr persönliche Nachruf auf Jörn Jensen im Tagesspiegel.

Zuerst war bereits eine kurze Würdigung bei Moabit.net erschienen (nicht mehr online, jetzt bei Berlin Street).

2 Kommentare auf "Der Weg ist das Ziel"

  1. 1
    Zeitungsleser says:

    Christian Ströbele ist gestorben – Nachruf von Michael Sontheimer:
    https://taz.de/Christian-Stroebele-ist-gestorben/!5878473/

  2. 2
    Moabiterin says:

    Heute ein sehr persönlicher Nachruf auf Jörn Jensen im Tagesspiegel:
    https://www.tagesspiegel.de/berlin/nachrufe/nachruf-auf-jorn-jensen-war-das-nicht-bourgeois-9392273.html

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