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„Sie waren Nachbarn“

Spuren der Deportation der jüdischen Bevölkerung in Moabit – Ein Gespräch mit Quartiersrat Ralf G. Landmesser

Am Interviewtermin außerhalb Moabits war eine Mietspirale schuld. Der kleine Verein konnte die Miete nicht mehr stemmen: „Hätte uns vor 11 Jahren nicht die Gentrifizierung aus Moabit vertrieben, wären wir noch am alten Standort Rathenower Straße 22“, erzählt Ralf G. Landmesser beim Gespräch im A-Laden. „Jedoch sagt man im Rheinland, wo ich her stamme: Hätt und Wenn wore zwee ärm Men.“ Nach 19 Jahren musste der im Kiez gut verankerte A-Laden Moabit verlassen. Das große A steht für Anarchistisch. Sein „neuer“ Standort liegt dort, wo man ihn am wenigsten vermuten würde: im „mittigsten“ Mitte eingekeilt zwischen Biosupermarkt und Co-Working-Space, wie man die Mischung aus Gemeinschaftsbüro und Cafés auf Neudeutsch nennt. Inmitten der durchsanierten, hippen Gegend in unmittelbarer Nähe des Rosenthaler Platzes fand der A-Laden 2008 tatsächlich noch eine Art Refugium im Hinterhof eines Gebäudekomplexes, der seit der Wendezeit ein Hausbesetzer-Projekt war, inzwischen aber mit Mühe der eigenen Gentrifizierung standhält.

Ralf G. Landmesser wohnt nach wie vor in der Rathenower Straße und öffnet das Vereinsbüro umschichtig mit seinen Kollegen vom Freie Kultur Aktion e.V. einmal wöchentlich. Der 66jährige studierte Publizistik, Politik und Soziologie zuerst in München an der LMU. Nach Westberlin ging er 1980 und setzte sein Studium an der FU fort. Aufgewachsen ist er in Mönchengladbach-Rheydt. Die Region wurde als wichtiger Standort der Textilindustrie einst das „Rheinische Manchester“ genannt – und in den 1960ern erstes Opfer der Deindustrialisierung durch Verlagerung der Produktion nach Fernost. Ralf G. Landmesser bezeichnet sein Herkunftsmilieu als kleinstädtisch. Er wuchs bei der Großmutter auf. Von der Judenverfolgung im Dritten Reich wusste er als Kind und Jugendlicher sehr wenig. Von ihrem riesigen Ausmaß ahnte er nichts. „Und meine Familie steckte leider mit drin! Mein Großvater Landmesser galt, weil er schon 1932, also vor der völligen Machtergreifung der Nazis, in die NSDAP eingetreten war, als ‚alter Kämpfer‘.“ Nach 1933 Eingetretene wurden spöttisch „Spätberufene“ genannt. Von der 68er Bewegung bekam Ralf G. Landmesser als Jugendlicher in der kleinstädtischen Großstadt Mönchengladbach mit rund 260.000 Einwohnern nicht viel mit. Er kam damals „auf Grund der falschen Bücher im Schrank“ zunächst „auf ’nen militaristischen Trip“. Unreflektiert und technikbegeistert las er „Landser“-Hefte, in denen es um Waffen, Schlachtberichte und Kriegsschauplätze des Zweiten Weltkriegs ging. Erst ein paar Jahre später wurde ihm das Ausmaß der Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung bekannt. Durch das 1987 eingeweihte Deportationsmahnmal auf der Putlitzbrücke wurde er darauf aufmerksam, was sich hier unweit seiner eigenen Haustür abgespielt hatte. Vorher hatte er wie viele Berliner gedacht, dass die Deportationen vor allem vom Bahnhof Grunewald ausgegangen seien. Dass der zentrale Deportationsort Berlins etwa einen Kilometer weiter östlich von dem Mahnmal Putlitzbrücke lag, fand er durch Zufall beim Einkaufen heraus, als er eine unscheinbare Infostele in der Quitzowstraße entdeckte. „Ab 1941 wurden von hier aus über 30.000 Menschen deportiert und ich wohne gerade mal 300 Meter Luftlinie entfernt davon. Ich war entsetzt darüber, dass der Berliner Senat stillschweigend diesen Ort einfach zubauen ließ.“ Bis 1945 verließen insgesamt 63 “Osttransporte” mit rund 35.000 und 117 “Alterstransporte” mit etwa 15.000 jüdischen Menschen Berlin in Richtung der Ghettos und Vernichtungslager. An dem Ort, an dem viele von ihnen nach einem 2-Kilometer-Fußmarsch vom Sammellager in der Levetzowstraße, oder hinverfrachtet auf teils offenen LKWs in die Züge steigen mussten, befindet sich heute der Parkplatz des Supermarkt Lidl, angrenzend zum Baumarkt Hellweg. Die rostenden und bröckelnden Reste der Rampe dort, über die ihr Abtransport erfolgte, wurden zwar vor relativ kurzem unter Denkmalschutz gestellt, aber – so Ralf G. Landmesser – „nützt das nur etwas, wenn sie auch erhalten werden.“

2017 wurde der neue Gedenkort „neben der Wand von Hellweg mit einem winzigen Stück Gleis und Weg“ eingeweiht. Vorausgegangen waren viele Aktivitäten von „Sie waren Nachbarn“. Diese 2011 von Aro Kuhrt und weiteren engagierten Moabitern gegründete Initiative wurde 2015 als gemeinnütziger Verein anerkannt. „Sie waren Nachbarn“ erinnert an die aus Moabit vertriebenen Juden, u.a. mit Plakatkampagnen und Filmvorführungen, einmal jährlich im November auch mit Infos im Schaukasten vor dem Rathaus Tiergarten. An dem Areal des neuen Gedenkortes hatten die Aktiven vor Jahren einfach ein der Straße zugewandtes, riesiges knallgelbes Hinweisschild mit dem Spruch „Von hier aus fuhren Züge ins Gas“ vor den damals vermüllten und als Hundeklo genutzten Grünstreifen gestellt. Mit Erfolg. Bezirk und Senat wurden nach vielen Hinweisen darauf aufmerksam, und schließlich wurden 150.000 Euro aus Lottomitteln für die Gestaltung eines würdigen Gedenkorts bereitgestellt. Der künstlerische Wettbewerb dazu war leider ein geschlossener, bedauert Ralf G. Landmesser: „Zehn handverlesene Künstler und Künstlergruppen wurden dazu eingeladen und das erbärmliche Resultat…“ Über seine Meinung zu dem realisierten Entwurf der Künstlergruppe „raumlabor berlin“ soll lieber nichts geschrieben werden – man kann sich selbst ein Bild davon machen. Zur mahnenden Sichtbarkeit des Ortes für 30.000 Deportierte nur so viel: Eine daran interessierte Frau sei auf ihrer Suche nach dem Gedenkort viermal daran vorbei gelaufen, bis sie ihn aufspürte.

Moabits jüdische Geschichte wurde erst spät bekannt. Als ehemaliges Arbeiter- und Gewebegebiet galt das Viertel nicht als “typisch jüdisch” und die hier liegenden Orte der Nazi-Vernichtungspolitik, wie die zum Sammellager gemachte Synagoge in der Levetzowstraße und der Güterbahnhof, standen standen lange Zeit hinter bekannteren Gedenkorten zurück. Nach und nach erinnerten Historiker und lokale Initiativen – neben dem Sie waren Nachbarn e.V. auch die Stolpersteininitiative Thomasisusstraße und in letzter Zeit der Gleis 69 e.V. – an die Lebensgeschichten der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner. Dafür zu sorgen, dass deren Wohn- und die Leidensorte im Stadtraum wieder sichtbar werden, haben sich die Aktiven des Sie waren Nachbarn e.V. auf die Fahne geschrieben. Sie nahmen Kontakt zu jüdischen Familien, wie der von Prof. Benjamin Gidron in Israel auf, dessen Verwandte zum Teil bis zu ihrer Deportation u.a. in der Jagowstraße und nahe der Synagoge wohnten. Fast alle überlebten den Holocaust nicht – nur  zwei Familien, die auswanderten, kamen davon. Prof. Gidron, Gründungsdirektor des „Israeli Center for Third Sector Research“ an der Ben Gurion Universität des Negev, brachte seine ganze Familie mit nach Moabit, deren Mitglieder inzwischen häufiger hier zu Gast sind. Sein Sohn Yuval, der Filmemacher ist, dokumentierte den ganzen ersten gemeinsamen Besuch per Kamera. Aus dem Material gestaltete er den beeindruckenden und anrührenden Film „Bei den Jekkes ist es schwieriger“, der zuletzt im April bei „unsichtbar, sichtbar – Jüdische Filmtage in Moabit“ gezeigt wurde.

Zusammen mit anderen interessierten Gruppen und Individuen gründete Sie waren Nachbarn e.V. 2017 das Netzwerk „Ihr letzter Weg“. Sie wollen den Weg zwischen der Sammelstelle Levetzowstraße zum Güterbahnhof Moabit, der exemplarisch auch für alle anderen Wege steht, die die jüdischen Opfer durch Berlin gehen mussten, dauerhaft kennzeichnen. Wie? „Als Bodenmarkierung, unübersehbar. Also dass man es sieht, wenn man nach unten schaut, aber auch wenn man beim Spazieren durch die Luft guckt, muss der Weg ins Auge fallen.“ Angedacht sind neben den Bodenmarkierungen auch Stelen und Infotafeln an wichtigen Sichtachsen, sowie gut sichtbare Markierungen an den Straßenlaternen. Ergänzt werden soll diese Sichtbarmachung im Stadtraum durch digitale Angebote. Konkret sind eine begleitende Webseite geplant und die Möglichkeit, dass Interessierte an einigen Orten des Gedenkens QR-Codes mit ihrem Handy scannen und dadurch mehr Details erfahren können. Ralf G. Landmesser, der auch bildender Künstler und Mitglied im Quartiersrat von Moabit Ost ist, wünscht sich zudem, dass der Endpunkt der Route durch Moabit anders gestaltet wird. Am jetzigen Zustand stört ihn unter anderem, dass der Ort, neben seiner unauffälligen Schlichtheit, sehr anfällig für Vandalismus ist und die verwendete Baumart: Kiefern, „Brandenburgs Allerweltsbaum“. Nach 30 Jahren sollen diese Bäume eine Höhe von 30 bis 35 Metern erreichen und „ein wachsender, lebender Gedenkort sein, der mit den Jahren seine Gestalt verändert – im Gegensatz zu Gedenkorten aus totem Material“, so beschrieb Francesco Apuzzo vom „raumlabor berlin“ es bei der Einweihung. Dieser Gedenkort versteht sich als Spiegelung des Mahnmals in der Levetzow­­straße. Anscheinend ist das eher Theorie als Realität. Eine Skizze am Ende des historischen Pflasterweges in der Quitzowstraße visu­alisiert den Depor­tations­weg vom Sammellager quer durch Moabit an diesen Ort. Eine zweite Stele an der Quitzowstraße zeigt in einer Skizze die Lage der für die Deportationen benutzten Militärgleise des ehemaligen Güterbahnhofs Moabit. Die Gestaltung der Wegstrecke der deportierten jüdischen Mitbürger ist leider noch allzu ferne Zukunftsmusik, bedauert Ralf G. Landmesser. Bis es soweit ist, muss weiter auf Politik und Verwaltung eingewirkt werden, um ein Mitwirkungsrecht und eine Finanzierung zu bekommen. Wenn das klappt und es wieder zu einem künstlerischen Wettbewerb kommt, hoffen die Mitglieder des Netzwerks „Ihr letzter Weg“ darauf, dass dieser dann als gänzlich für jeden offenen Wettbewerb und künstlerisches Preisausschreiben konzipiert wird. Im Idealfall hätten er und die anderen Engagierten vom Sie waren Nachbarn e.V. und dem Netzwerk „Ihr letzter Weg“ diesmal bei der Gestaltung ein Wörtchen mitzureden. Erste vielversprechende Ideen seien vorhanden.

Kontakt und mehr Informationen zum Sie waren Nachbarn e.V. und zu „Ihr letzter Weg“: https://www.siewarennachbarn.de

Text: Gerald Backhaus, Fotonachweis/Copyright der Bilder: Ralf G. Landmesser

Zuerst erschienen auf der Webseite des Quartiersmanagements Moabit-Ost

Nachtrag:
Die Berliner Landeszentrale für politische Bildung hat jetzt den oben erwähnten Film „Bei den Jekkes ist es schwieriger“ von Yuval Gidron mit den deutschen Untertiteln ins Netz gestellt.

3 Kommentare auf "„Sie waren Nachbarn“"

  1. 1
    Andreas Szagun says:

    Lieber Ralph,

    Du wirst zitiert mit „Ich war entsetzt darüber, dass der Berliner Senat stillschweigend diesen Ort einfach zubauen ließ“. Das aber hat eine Vorgeschichte.

    Die Arbeit zu diesem Mahnort begann 1998 mit dem B-Plan-Verfahren zur „Bahnlinse“ nördlich von Quitzow- und Siemensstraße. Aber schon vorher – 1996 – gab es Anfragen des Bezirksamtes an das damals noch bestehende bezirkliche Heimatmuseum und eines Historikers dieses Museums an mich (ich bin ehemaliger Eisenbahner). Als Zeitzeuge, der seit dieser Zeit das Verfahren begleitet und zum Beispiel auch am Runden Tisch diesbezüglich teilgenommen hatte, kann ich sagen, daß zu Zeiten des Bezirkes Tiergarten sehr wohl engagiert an der Schaffung eines Mahnortes gearbeitet worden ist, auch von offiziellen Stellen. Allerdings hat sich erst im Jahr 2006 – da war parteipolitisch der „Anschluß“ Mittes und Tiergartens an den Wedding schon vollzogen – durch ein Forschungsgutachten von Alfred Gottwaldt, Diana Schulle und Klaus Dettmer klargeworden, daß eben nicht Grunewald, sondern Moabit der am meisten für Deportationszwecke genutzte Bahnhof Berlins gewesen war. Das Gutachten war übrigens vom Runden Tisch beauftragt worden, weil man sich – auch bedingt durch Vermutungen der am Verfahren Beteiligten – fragte, ob dieser Bahnhof aufgrund seiner zentralen Lage nicht eine größere Rolle gespielt haben könnte. Und diese Erkenntis kam Jahre zu spät für die bis dato schon vollzogene bauliche Einfassung des Ortes. Sie wurde vollzogen, als man noch davon ausging, daß der neue Gedenkort ob seiner damals unbekannten zentralen Stellung nur ein Teil einer Denkmaltopographie des Landes Berlin sein würde, wie es damals bezeichnet worden war.

    Auch sollte nicht vergessen werden, daß Westberlin jahrzehntelang eine politische Funktion zu erfüllen hatte, nämlich „Pfahl im Fleische der DDR“ zu sein und dementsprtechend finanziell sehr reichlich alimentiert worden war. Diese Alimentation fiel nach 1989 natürlich weg, nur hatten sich die nun gesamtberliner Politiker (auch die „Hauptstadt der DDR“ war ja bessergestellt worden als „die Republik“) nicht daran gewöhnen und rechtzeitig finanziell „zurückschalten“ können. Die Finanzkrise und das Sparen bis die Feuerwehr kommt waren die Folge (die kommt deshalb auch heute noch zunehmend später).

    Ich finde das Mahnmal übrigens durchaus gelungen, weil für mich ein Gleis, das „irgendwo im Wald“ verschwindet, schon einen gewissen Eindruck, nämlich „Lager“, auslöst. Und letztendlich sind ja nicht wenige der von Moabit aus Deportierten in den Wäldern bei Riga erschossen worden. Angesichts des Wissens um seine Entstehung kann ich auch mit der Kleinheit des Ortes leben, er spiegelt damit auch einen Teil unserer Geschichte und des Umgangs mit ihr wider.

    Hoffen wir beide also darauf (und kümmern uns darum), daß es bei der Kenntlichmachung des Weges nun besser laufen möge!

  2. 2
    Susanne says:

    Danke, Andreas!

  3. 3
    Netzgucker says:

    Vor etwa einem Monat hat die Berliner Landeszentrale für politische Bildung den Film „Bei den Jekkes ist es schwieriger“ von Yuval Gidron mit den deutschen Untertiteln ins Netz gestellt:
    https://www.berlin.de/politische-bildung/politikportal/blog/artikel.952045.php

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