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Der Traum von irischen Verhältnissen

Mustafa Fahim mischt sich ein

„Mustafa!“ Der 77-jährige wird gegrüßt im Westfälischen Viertel, auch die Angestellte aus der Buchkantine kennt ihn, wo er gerade einen Milchkaffee getrunken und das bestellte Backbuch für die Enkelin hübsch verpackt abgeholt hat. Sie sprintet noch geschwind mit der Sonnenbrille hinter ihm her. Es ist lange her, als er sich zum ersten Mal eingemischt hat. In den 70er Jahren sollte in das Wohnkarree von Essener-, Strom-, Krefelder und Alt-Moabit ein Altenwohnheim gebaut werden. Eine Bürgerinitiative konnte den Bau damals verhindern. „Es ist eine gute Atmosphäre dort, alle sitzen zusammen, die Kinder können spielen.“ Der „Essener Park“ blieb bis heute erhalten. Tempo 30 in der Beusselstraße, Ziel einer anderen Bürgerinitiative, konnte nicht durchgesetzt werden. „Da war der Senat wegen des Flughafenverkehrs dagegen“.

Erreicht er denn etwas mit seinem Engagement im Nachbarschaftsverein, im Moabiter Ratschlag, im Moscheeverein, in der SeniorInnenvertretung? „Ja“, sagt Mustafa Fahim, „sagen wir zu 70 Prozent.“ Eigentlich wollte der Ägypter nur in Berlin studieren. Nach zwei Semestern Medizin an der FU, 1960, wechselt er ins Bauwesen an die TU Berlin. Nach dem Studium geht er zurück nach Ägypten. Aber die Firma, in der er als Student gejobbt hatte, erinnert sich an den Experten für Fassaden aus Kunststoff und holt ihn zurück. Das Ullsteinhaus soll verkleidet werden, „es ging um verschiedene Millionenaufträge“. Er lernt eine Frau kennen, „eine Bayerin, streng katholisch“, amüsiert er sich bis heute. 1972 wird geheiratet. 40 Jahre, bis zu ihrem Tod, leben sie zusammen im Westfälischen Viertel. Er hat drei Kinder und vier Enkelkinder.

Nachdem seine Firma aufgelöst wird, hat Mustafa Fahim 35 Jahre lang im Bauamt des Bezirksamts Tiergarten/Mitte gearbeitet. Er weiß, wie schwierig Planung ist. „Ich war der erste Araber im Amt.“ Kein Wunder, dass ihn der damalige Bürgermeister Joachim Zeller fragt, ob er nicht eine Beratung in Arabisch anbieten könne. So kommt er zum Moabiter Ratschlag e.V., wo er seit etlichen Jahren auch Vorstandsmitglied ist. Jeden Freitag von 15 bis 17 Uhr bietet er hier Beratung der SeniorInnenvertretung an. „Wichtig ist die persönliche Atmosphäre, anders als im Rathaus.“ Er muss es wissen. Im Rathaus Tiergarten berät er Seniorinnen und Senioren außerdem jeden dritten Mittwoch von 14 bis 17 Uhr, Zimmer 258. Elke Schilling, die rege Leiterin der SeniorInnenvertretung, hatte ihn angesprochen. Klar, dass er sich der Wahl stellte und inzwischen als Nachrücker Mitglied der SeniorInnenvertretung ist.

„Mein Kalender ist mein Kopf“
Er bringt Probleme ein, die er vor Ort hört. Er erzählt von der Frau, der der Preis für das frische, selbst gekochte Mittagessen beim Moabiter Ratschlag zu teuer war. „Es ist von 1,50 € auf 2,50 € angehoben worden. Sie hatte das Geld nicht, und sie hat sich geschämt zum Sozialamt zu gehen. Das geht vielen Frauen so.“ Mit dem Alter gehe er auch wieder öfter in die Moschee. „Man findet zur Religion, wenn man älter wird“. Er ist im Moscheeverein aktiv, weiß, dass in der Rathenower Straße keine Fanatiker aktiv sind: „Dort gibt es keine Radikalen, kene Salafisten.“ Er gehe dorthin, wenn er Zeit habe.

„Mein Kalender ist mein Kopf“, sagt er und gibt zu, dass er auch schon mal etwas durcheinander gebracht habe. Das passiert anderen auch mit dem Kalender. Dienstag, Donnerstag und Samstag sind seine Lauftage, dann joggt er zum Tiergarten, zum Potsdamer Platz, zum Reichstag. Vor dem Hawai-Marathon hat er seinen Kindern gesagt, dass er nur fünf oder zehn Kilometer laufen wolle. Sie konnten aus der Ferne seine Zeiten beobachten. „Dort kann man Pause machen und dann weiter laufen.“ Er tat es und war nach sieben Stunden im Ziel. Er ist Marathon gelaufen! In Berlin wäre das nicht möglich, da kommt irgendwann der Besenwagen, der Verkehr geht vor. Parteimitglied zu werden, sei nicht so leicht gewesen. „Die CDU hat damals nur Christen genommen, und ich bin kein Christ“. Also wird er 1972 SPD-Mitglied, nach einem Gespräch mit Willy Brandt. Als ihn eine Nachbarin vor einiger Zeit anspricht, wird er auch Mitglied der Bürgerplattform nebenanwestfaelischesviertel.de. Gerade kommt er nicht rein mit dem Handy. Er will einen Tanzkurs für Senioren im Zillehaus neben der Moschee einstellen.

Apfelkuchen beim Moabiter Ratschlag
Bald geht’s mit dem Geschenk zur Enkeltochter nach Irland. In Kork, schwärmt er, wird er wieder den Seniorenklub besuchen. „Dort hat es mir richtig gefallen. Spielräume, Fitnessräume, ein Saunabereich, Fernseh- und Musikräume für alle ab 55 gratis. Auch die Verkehrsmittel und Theaterbesuche sind umsonst. Davon sind wir hier in einm der reichsten Länder der Welt noch weit entfernt“, sagt er. Er denkt an die Frauen, die nach dem Krieg das Land aufgebaut haben, als die Männer noch in Gefangenschaft waren, und die nur eine geringe Rente bekommen. Eine 90-jährige Dame habe er neulich zu Kaffee und Kuchen eingeladen im Moabiter Ratschlag. Vermutlich haben sich beide darüber gefreut. Mustafa Fahim schwärmt vom Apfelkuchen, der dort gebacken wird. Am Freitag, sagt sein Kalender im Kopf, ist er wieder dort.

P.S. Als der Beitrag schon fertig ist, ruft Mustafa Fahim noch einmal an. Wieder bewegt ihn etwas: „Die Deutsche Bank hat alle Filialen in Tiergarten geschlossen, die Berliner Bank auch. Bis zur Otto-Suhr-Allee fahren zu müssen, ist für ältere Leute nicht akzeptaben!“ Er hat wieder eine Aufgabe.

Text und Foto: Birgit Nößler

Zuerst erschienen im Journal 55 Plus Berlin-Mitte, 9. Jahrgang, Ausgabe 2018

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