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Wie in Vietnam

Egal ob Szenekiez oder Plattenbau-Banlieue: Die Versorgung mit angeblich vietnamesischer Küche ist wohl in keiner deutschen Stadt so engmaschig wie in Berlin. Doch bei gefühlt 99 Prozent aller sich »vietnamesisch« nennenden Imbisse und Restaurants wird man mit ziemlich langweiligem Asia-Einheitsfood abge­speist. Ein paar Suppen, große Portionen Reis, viel Soße, eine Kelle »exotisches« Tiefkühlgemüse, und dann noch irgendwie Rind- oder Schweinefleisch, Huhn, Ente, Fisch, Garnelen oder – seit einigen Jahren – auch Tofu dazu. Kaschiert wird diese Einfältigkeit durch bombastische Speise­karten, die nicht selten 60 oder mehr Positionen aufweisen, obwohl alles fast gleich schmeckt.

Mit vietnamesischer Esskultur hat das ungefähr so viel zu tun wie die FDP mit Sozialpolitik. Aber wer sucht, der findet. Zwar hat auch Moabit jede Menge Asia-Langweiler zu bieten, doch »Tônis« ist die berühmte Nadel im Heuhaufen oder der Aromatropfen im Glutamat-See – und eine Oase unaufgeregter Gastfreundschaft, die sich wohltuend von der unan­genehm schleimigen Freundlichkeit in vielen Etablissements unterscheidet. Und das nicht nur, weil jeder Gast erst mal ein Kännchen mit Jasmin- oder Grüntee auf den Tisch bekommt, wie es in Vietnam üblich ist.

Das schmucklose, oft proppenvolle Imbisslokal (man kann auch draußen sitzen) bietet zwar nur ein Tagesessen und eine kleine Karte mit 14 Gerichten, dafür wird hier kompetent und landestypisch gekocht. Das heißt: Bei den Hauptgerichten werden Huhn, Rindfleisch oder Garnelen nicht in irgendwelchen dicklichen Flüssigkeiten ertränkt, sondern vorher fein mariniert und mit wenig Soße serviert – gerade genug, um den Reis zu aromatisieren. Auch frische Kräuter spielen bei »Tônis« eine wichtige Rolle, vor allem Zitronengras, Zitronenblätter, Koriander und Minze. Und natürlich die in Vietnam allgegenwärtige und hier hausgemachte Fischsoße Nuoc Mam. Alles wirkt fein abgestimmt, mal mit Kokosmilch, mal mit Bambus, mal mit Ananas. Auch Chili, Knoblauch und Ingwer – allesamt geeignet, bei unkundiger Verwendung jedes Essen ungenießbar zu machen – werden präzise dosiert eingesetzt.

Es ist sicher kein Zufall, dass man hier auffallend viele Asiaten unter den Gästen sieht. Doch auch viele Werktätige – meistens vom Typ »junge Kreative« aus den neuen Gewerbehöfen im angrenzenden Industriegebiet – nehmen hier ihre Mittagsmahlzeiten ein. Zwischen 12 und 15 Uhr ist im »Tônis« Rushhour, und besonders im Sommer muss sich dann so manch frustrierter Hungriger einige Zeit gedulden, bis er einen Platz findet. Danach wird es meistens etwas ruhiger. Um 21 Uhr ist Schluss und am Wochenende ist geschlossen. Und die Preise? Eigentlich kaum erwähnenswert, denn bei 7,50 Euro für die Gerichte mit Großgarnelen ist das Ende der Fahnenstange bereits erreicht. Wer es noch authentischer mag, muss wohl in die großen vietnamesischen Markthallen nach Lichtenberg fahren. Oder gleich nach Vietnam. Aber wer macht das schon?

»Tônis«, Huttenstraße 68, Moabit, Tel. 030 – 34357754

Text: Rainer Balcerowiak, Foto: Susanne Torka

Zuerst erschienen am 22. November 2017 in Neues Deutschland in der Kolumne „Essen fassen“: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1070888.wie-in-vietnam.html

Ein Kommentar auf "Wie in Vietnam"

  1. 1
    Netzgucker says:

    Ja, es ist lecker dort, aber vilmoskörte hat schon 2008 darüber geschrieben:
    https://vilmoskoerte.wordpress.com/2008/10/07/tonis-vietnamesische-kueche-in-berlin/

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