Der Schneider aus der Wilsnacker Straße
Nazim Çoskun, Jahrgang 1946, ist der älteste Gewerbetreibende in der Wilsnacker Straße in Moabit. Seit 40 Jahren besteht seine Schneiderei. An einem Sonntag im Dezember 2015 sitzen wir in seinem kleinen, nur über einige Stufen erreichbaren, Laden in der Wilsnacker Straße 63 für das Interview zusammen. Nermin G., meine Freundin und seine Nachbarin, übersetzt die Fragen. Ein alter Bekannter setzt sich eine Weile dazu und geht dann wieder. Das Gespräch wechselt immer wieder vom Türkischen ins Deutsche und umgekehrt.
Seit wann betreiben Sie die Schneiderei in der Wilsnacker Straße?
Ich bin 1976 mit meinem Geschäft in die Wilsnacker Straße 12 eingezogen, hier schräg gegenüber. Jetzt ist da der Friseursalon Eva. Die Schneiderei hat damals aber nur den rechten Teil des Ladens eingenommen. Es gibt noch ein altes Foto, auf dem man das Haus erkennen kann. 1984 bin ich hierher in diesen Laden umgezogen, mit Ofenheizung. Wo jetzt die Umkleiden sind, stand damals der große Ofen. Die letzte Zeit, bis vor zwei Jahren habe ich in der Wohnung über der Schneiderei gelebt – 10 Jahre lang. Dann war die Wohnung zu groß. Aber ich bin in der Nähe geblieben, in der Birkenstraße.
Wie sind Sie überhaupt nach Berlin gekommen und was haben Sie vorher gemacht?
In Istanbul und Aydin habe ich als Maßschneider gelernt, später in Paris gearbeitet und dort meinen Meister gemacht. Schon in Istanbul war ich verlobt, meine Frau ist 1971 nach Berlin gegangen und ich nach Paris. Wir wollten ausprobieren, wo es sich gut leben lässt. Bei Besuchen hat mir Berlin dann besser gefallen. Vor allem waren die Mieten nicht so teuer. Nach unserer Hochzeit wohnten wir im Wedding, Stube und Küche für 46 DM. So war das damals. 18 Jahre haben wir in der Koloniestraße gewohnt, danach 10 Jahre in der Lehrter Straße 4. Ich arbeitete von 1973-76 in der Konfektion. Es gab viele Modefirmen in Berlin, große Betriebe, bei denen 200 bis 400 Schneider arbeiteten. Eigentlich wollte ich schon 1974 ein eigenes Geschäft aufmachen und hatte es nach dem Tod des Inhabers sogar schon gekauft. Aber da hat mir das Gewerbeamt einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie haben nach Diplomen gefragt. Ich hätte erst acht Jahre hier arbeiten müssen, um eine eigene Maßschneiderei aufmachen zu dürfen.
Trotzdem habe ich weiter nach einem eigenen Laden gesucht. 1976 konnte ich dann doch mit einer Geschäftspartnerin die Änderungsschneiderei aufmachen. Meine Frau hat damals bei Telefunken gearbeitet. Ursprünglich wollten wir nur ein paar Jahre ins Ausland, gut Geld verdienen, der Familie schicken und sparen. Jetzt sind daraus schon fast 50 Jahre geworden. Wir haben zwei Söhne, beide haben an der Technischen Universität Berlin Informatik studiert und arbeiten in ihrem Beruf. Meine Frau ist gerade zu Besuch in Bonn bei den Enkelkindern. Die sind unsere große Freude.
Erzählen Sie uns ein bisschen aus Ihrem Geschäftsleben in der Wilsnacker Straße. Wie hat sich die Straße in der Zeit verändert?
Ja, die Wilsnacker Straße hat sich sehr verändert. Früher gab es viel mehr Leben auf der Straße. Die Wilsnacker war eine beliebte Einkaufsstraße, fast wie der Kudamm, viele kleine Geschäfte und viel Laufkundschaft, oft zu viel für die schmalen Gehwege. Nebenan war der Kinoausgang vom BTL Turmstraße. Wo heute das Restaurant Lei e Lui ist, war ein Theater. Dort war auch die Bushaltestelle. Die Nr. 16 ist hier durchgefahren – von Reinickendorf nach Schöneberg. Mit diesem Bus bin ich morgens zur Arbeit gekommen, bevor ich mir mein erstes Auto gekauft habe. Das war 1979. Da hatte ich meinen Führerschein erst seit einer Woche. Es gab so viele verschiedene Geschäfte. Die heutige Spielhalle an der Ecke zur Turmstraße war ein Möbelgeschäft, hier schräg gegenüber ein Goldschmied. Der Kinderladen war ein Weinladen, es gab eine Reinigung, vorher ein Laden mit Bilderrahmen, dahinter kam ein Akustikgeschäft für Hörgeräte. Es gab ein Fisch- und ein Kartoffelgeschäft, Porzellan, Wäscherei, viele schöne Geschäfte und alle haben sich über die neue Schneiderei gefreut, als ich eingezogen bin. Ich hatte gleich viele Kunden, auch Richter, Rechtsanwälte. Das Gericht ist ja ganz nah. Sogar ein früherer Bürgermeister, aber ich kann mich nicht mehr an den Namen erinnern. Oder Krankenschwestern aus dem nahen Krankenhaus. Techniker vom Fernsehen haben im Haus gewohnt. Viele Kunden, die hier früher gelebt haben, sind in den 1970er und 1980er Jahren weggezogen nach Spandau, Wilmersdorf oder Reinickendorf. Einige kommen immer noch in mein Geschäft oder deren Kinder. Die Häuser waren ja schon sehr alt. Die wurden dann modernisiert und die Hinterhäuser von der Nr. 10, 11 und 12 wurden abgerissen. Die Nr. 15 war besetzt. Da ist jetzt das Umweltlabor drin.
Und dann hat die Firma Franke neu gebaut. Ich habe mich gewundert, dass sie keine neuen Geschäfte mehr gebaut, sondern sogar noch aus Läden Wohnungen gemacht haben. Aber der Geschäftsführer sagte mir, da werden wir keine Mieter mehr finden. Wahrscheinlich hatte er recht. Es gibt nicht mehr so viele kleine Läden. Früher war der Zusammenhalt unter uns Geschäftsleuten groß. Man hat sich gegenseitig geholfen. Man kannte sich. Man kannte auch die ganzen Familien. Die Bäckerei Specht gab es ja noch ziemlich lange, dort haben viele Leute gearbeitet. Brot, Brötchen und alles andere wurde noch selbst gebacken. Samstags stand die Schlange bis auf die Straße. Ein Sohn ist nach Amerika gegangen, der andere wohnt hier noch.
Vielleicht war es ja auch ganz gut, dass ich eine Änderungsschneiderei und keine Maßschneiderei aufgemacht habe. Ich hätte ja immer mit der Mode gehen müssen, neue Schnitte lernen. Das wäre vielleicht sehr stressig geworden. Früher hatte ich nicht mal genug Zeit, um mit allen Kunden zu sprechen. Jetzt kommen Nachbarn manchmal einfach nur zum Reden vorbei. Ich habe nicht mehr so viel zu tun. Aber das ist auch gut so. Ich bin ein bisschen müde. Manchmal habe ich Rückenschmerzen und schließlich werde ich bald 70 Jahre alt. Vielleicht werde ich im nächsten Jahr meinen Laden zu machen.
Wir wünschen Ihnen alles Gute für den wohlverdienten Ruhestand.
Fotos: privat, Volkan G. und Christoph Eckelt, bildmitte
… und so etwas gibt es in Spandau – eine Crowdfunding Kampagne für eine Scheiderwerkstatt:
http://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/spandau/erfolgreiche-crowdfunding-kampagne-fuer-tamer-mohamed-in-der-spandauer-neustadt-schneiderwerkstatt-gesichert/12777552.html
zu Nachbar Post 1 ich glaube nicht dass hier in der Wilsnacker Str Schneiderwerkstatt das Problem das Finanzielle ist denn der Schneider sagt ja eindeutig dass er Rückenprobleme habe und bald 70 sei und deshalb den Laden schließen wolle man kann das also augenscheinlich nicht mit dem was sie geschrieben haben vergleichen
@ 2 Moa,
so hab ich das auch gar nicht gemeint!
Sondern als Anerkennung für die vielen kleinen unbeachteten Kiez-Schneider.
Danke für den tollen Artikel.
Ich wohne seit 10 Jahren in der Wilsnacker Str. und habe den Schneider schätzen gelernt.
Es ist spannend zu lesen, wie das Leben hier früher mal war und wie es sich gewandelt hat.
Weiter so! 🙂