„Es hat mich gerettet, dass ich so schlecht im Turnen war“
Kurt Zillmann erinnert sich an seine Kindheit in Moabit zur Zeit des Nationalsozialismus – aufgezeichnet von Elke Fenster, März 2012
Kurt Zillmann, geboren 1932, wohnte mit seinen Eltern in der Rostocker Straße. Von 1938 bis 1942 besuchte er die Volksschule für Jungen in der Rostocker Straße. Später wechselte er auf die Mittelschule in der Zwinglistraße. Beruflich war er als Schlosser, technischer Zeichner und Verwaltungsbeamter tätig. Seit seiner Jugend gehört er der SPD an; er war Vorsitzender der IV. Abteilung, Bezirksverordnetenvorsteher und von 1971 bis 1979 erst Jugend- und dann Baustadtrat im früheren Bezirk Tiergarten. Heute lebt Kurt Zillmann mit seiner Frau im nördlichen Hansaviertel. Er engagiert sich in der Arbeiterwohlfahrt und genießt seinen aktiven Ruhestand.
Mein Vater war Arbeiter bei der BAMAG, einem großen Maschinenbaukonzern in der Reuchlinstraße. Da war auch schon mein Großvater beschäftigt. Mein Vater war von Beruf Dreher. Er sagte mit einem gewissen Stolz: „Dreherr“. Das hatte auch seine Berechtigung, denn er war kein gewöhnlicher Dreher, sondern er war Karusell-Dreher für große Werkstücke. Weil das eine kriegswichtige Produktion war, wurde er auch nicht als Soldat eingezogen. Der Beusselkiez war eine typische Arbeitergegend. Vor 1933 war die Rostocker Straße eine Kommunistenhochburg. 1933 über Nacht hatten die alle die braunen Hemden an. Meine Eltern sagten: Was vorher Rotfront war, war dann SA Sturm. In Berlin gab es zwei Straßen, die zu Hitlers Geburtstag geschmückt wurden. Eine war die Straße Unter den Linden und die andere war die Rostocker Straße. Als Kind habe ich auch Goebbels gesehen, wie er durch die Straße fuhr. Der hat wohl mit dafür gesorgt, dass hier am 20. April (Hitlers Geburtstag) geflaggt und geschmückt wurde. Ich weiß nicht mehr, wie der Obernazi hier vor Ort hieß, aber ich erinnere mich, dass ihn alle „Schweinebacke“ nannten. Der wohnte Beussel- Ecke Turmstraße.
Mit fünfeinhalb Jahren wurde ich in der Volksschule für Jungen in der Rostocker Straße eingeschult. Die Mädchenschule war direkt neben unserer. Eigentlich bin ich gern zur Schule gegangen. Ich hatte immer gute und sehr gute Zensuren. Es war sehr streng damals. Unsere Klassenlehrerin, Fräulein Steppert, war eine Nazirieke, eine Sadistin außerdem. Die hat mit Vorliebe Schüler, die nicht so gut waren, mit dem Rohrstock bearbeitet, auf dem blanken Hintern. Vor der Klasse musste der seine Hose runter ziehen. Auch die Turnlehrer waren damals Sadisten, rücksichtslos. Wenn jemand nicht mitkam, haben sie ihn dem Spott der Klasse überlassen.
Es hat mich gerettet, dass ich so schlecht im Turnen war. Eines Tages hieß es – ich war damals wohl zehn Jahre alt – dass wir alle mit unseren Zeugnissen auf dem Hof antreten sollten. Dann standen da drei Herren, die aber nicht in Uniform waren. Die gingen durch, haben geguckt, ob wir gesund sind und haben sich die Zeugnisse zeigen lassen. Die fragten mich, warum ich keine Zensur im Turnen auf dem Zeugnis hätte, und im Jahr davor war es eine miese Zensur. Da sagte ich, dass ich eine Lungenkrankheit hatte und auch deswegen verschickt gewesen war. Die guten Schüler mussten dann raustreten. Ich habe später mitbekommen, dass die für diese Napola-Schule ausgesucht worden waren. Napola war die Abkürzung für „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“. Dort zogen die Nazis ihren Kadernachwuchs heran. Das ist mir Dank meiner Unsportlichkeit erspart geblieben.
Nach der Schule gingen wir spielen. Unsere Spielstätte war die Straße. Es gab damals auch nur wenige Spielplätze. Im Ottopark war einer, aber wer ging denn von hier aus zum Ottopark! Und einer war oben an der Wiebestraße/Ecke Sickingenstraße. Außerdem waren die Spielplätze damals nur Sandkästen. Die Straße war unser Spielplatz. Eines unserer beliebtesten Spiele war Treibeball. Oder Hopse quer über die Straße.
Es gab in jeder Straße eine bestimmte Clique. Die haben sich miteinander geprügelt und geschlagen. Wenn ich zum Beispiel mal die Turmstraße runter gehen musste, passte ich an der Beusselstraße auf, dass da keiner von denen war. Oder ich ging mit einem Erwachsenen da durch, damit die nicht über mich herfielen und mich verprügelten. Umgekehrt war es genau so. Alle Kinder hatten so ’ne Latten. In der Rostocker Straße vorne an der Ecke war ein Kuhstall. Da konnte man Brennholz für Kartoffelschalen holen. Aber da gab es nicht nur Brennholz, sondern da standen auch richtige Vierkant-Latten. Und wir haben dann immer eine Möglichkeit gefunden, was zu organisieren…
Mit zehn Jahren konnte man Pimpf werden, das war die Vorgruppe vor der Hitler-Jugend. Meine Klassenkameraden waren schon alle zehn. Die waren schon Pimpfe, aber ich durfte noch nicht, weil ich erst neun war. Ich bin aber mal mit gegangen zu den Heimabenden. Die waren in der Wiclefstraße 2/Ecke Wilhelmshavener in einem Jugendheim. Vorne war ein Wohnhaus und im Hinterhaus Quergebäude und Seitenflügel war das Jugendheim. Auch nach dem Krieg war hier noch lange Jahre ein Jugendheim untergebracht. Die Heimabende haben mir gut gefallen. Da wurde gesungen und vorgelesen. Natürlich waren da nur Jungs, das ist doch klar. Dann haben die mich mal mitgenommen zu ihren sogenannten Abenteuerspielen. Oben an der Beusselstraße/Ecke Seestraße wurde der Westhafenkanal gebaut. Diese riesige Baustelle war fantastisch für Kinder und Jugendliche zum Abenteuerspielen. Das hat mir aber überhaupt nicht gefallen, denn es ging grob zu. Die Häuptlinge haben die anderen noch angetrieben und ermuntert, den sogenannten Gegner richtig fertig zu machen. Und wegen meiner Länge und Unsportlichkeit war ich ein bevorzugtes Objekt verprügelt zu werden. Also bin ich da nicht mehr hingegangen.
Als die großen schweren Bombenangriffe 1943 begannen, wurde auch unsere Schule evakuiert. Ich war damals schon auf die Mittelschule für Knaben in der Zwinglistraße gewechselt. Meine Eltern haben meine Schwester und mich dann zu den Verwandten meiner Mutter auf Rügen gebracht. Im November 1943 war ich mit meiner Tante auf Berlin-Besuch. Wir kamen am Stettiner Bahnhof an. Die Straßenbahn 44 fuhr nicht. Da hieß es schon: Es gab einen schweren Bombenangriff. Wir liefen dann zu Fuß nach Moabit. Als wir in die Rostocker Straße kamen, sagte meine Mutter zur Tante: „Da hinten, das vorletzte Haus ist unseres“. Und da sahen wir, dass das obere Geschoss unseres Hauses weg war und die Decke unserer Wohnung im 3. Geschoss eingestürzt war.
Es war dann üblich, dass man die Sachen, die nicht verbrannt waren, auf die Straße stellte. Das haben wir auch so gemacht. Dann haben wir einen Übernachtungsschein für den großen Zoobunker bekommen. In der Nacht war kein Bombenangriff. Am nächsten Morgen, als wir den Bunker verließen, sahen wir einen hellen Feuerschein über Moabit und als wir zurück kamen, brannte die ganze Rostocker Straße. In der Nacht war das Feuer wieder aufgelodert. Das meiste war verbrannt, auch mein ganzes Spielzeug. Da war ich elf Jahre alt.
Mein Onkel, bei dem ich auf Rügen wohnte, war Schrankenwärter an der Linie Stralsund – Saßnitz. Ich hatte immer Angst, dass die Strecke bombardiert wird. Da kam auch einmal ein Tiefflieger an, und ich bin runter in den Keller. Alle anderen sind oben sitzen geblieben beim Essen – und nichts ist passiert. Nachher habe ich dann auch gewusst warum: über diese Bahnstrecke funktionierte der Gefangenenaustausch. Das haben wir dann später auch gesehen. Wenn die Züge mit britischen und amerikanischen Gefangenen nach Norden in Richtung Schweden fuhren, dann haben die alle gejubelt und Schokolade raus geworfen. Aber in der Schule haben sie uns gesagt: „Das ist alles vergiftet, das dürft ihr nicht nehmen“. Und wenn dann ein paar Stunden später der Zug mit den Deutschen zurück kam, waren die Fenster zu: grimmige Gesichter, keine Freude bei denen. Die wussten wohl, was auf sie zukam. Die Zeit auf Rügen war für mich so eine richtige abenteuerliche Zeit. Wir haben viel mit den Kindern vom Rittergut gespielt. Ich habe denen die Schularbeiten gemacht – ich war auch auf Rügen der beste in der Klasse – und ich besaß ein Fahrrad und ein Fernrohr. Also war ich der Häuptling, obwohl ich mich nie in die Keilereien begeben habe.
Im Dezember 1944 haben uns unsere Eltern zurück nach Berlin geholt nach dem Motto: Wenn wir untergehen, dann gehen wir alle zusammen unter. Für meine Eltern und für alle Berliner war ganz klar, dass der Krieg verloren war .
Wir wohnten dann in der Gotzkowskystraße. Als Ersatzwohnung haben wir eine dieser Wohnungen bekommen, die vorher jüdisch bewohnt waren. Da wurden wir dann eingewiesen. Neue Möbel erhielten wir auf Bezugsschein. Das waren französische Möbel aus dem Beutezug. Auch normale Bürger waren somit Nutznießer des Beutefeldzugs der Nazis, die die Länder ausgeplündert haben. Während des Krieges haben wir auch nie gehungert. Der Hunger begann erst später.
Die Sammelstelle der Juden war in der Synagoge in der Levetzowstraße, von dort wurden sie abtransportiert. Per Post bekamen sie den Bescheid, wann sie sich dort einzufinden hatten. Das Tragische war: Meine Mutter war damals als Briefträgerin bei der Post dienstverpflichtet. Sie hat in der Gotzkowskystraße immer die Post ausgetragen, und zwar auch die Briefe für die Juden, in denen sie aufgefordert wurden, sich zu melden. Wer den Braten gerochen hat, der hat vorher ’ne Kurve gekratzt. Harry Foß* zum Beispiel, der hat den Krieg mit seinen Eltern hier überlebt, versteckt bei einer Familie in der Waldstraße. Das habe ich während des Krieges überhaupt nicht mitbekommen.
Nach Kriegsende, im Winter 1945/46, der ein ganz strenger Winter war, war die zweite Evakuierung. Die Engländer haben die Kinder aus dem britischen Sektor in Berlin in die britische Zone nach Westdeutschland gebracht. Mit Bussen bis nach Helmstedt. Dann musste man in die Entlausungsbaracken rein. Meine Klasse kam in die Nähe der holländischen Grenze. Da bin ich aber nicht mit gekommen, weil ich krank war. Ich kam dann später nach Ostfriesland. Das war für mich grauselig, da bin ich nicht klar gekommen. Weihnachten 1945 haben die Kanadier, die dort stationiert waren, eine Weihnachtsfeier für die Kinder bis 14 Jahre gemacht. Weil ich so lang war, haben mich alle für älter gehalten. Aber ich war damals erst 13 Jahre alt.
* Das Schicksal von Harry Foß und weiteren Familienmitgliedern wird in dem Buch von Kurt Schilde: Versteckt in Tiergarten. Auf der Flucht vor den Nachbarn (Berlin, 1995) auf den Seiten 34-59 geschildert.
Fotos: Günter Schmid und private Familienfotos aus der ersten Klasse, bei der Einschulung mit seiner Schwester
Zuerst erschienen in der neuen Stadtteil-Broschüre 2013 des Verbundes für Nachbarschaft und Selbsthilfe in Moabit, die zur Zeit in Moabit verteilt wird.
Interessanter Artikel. Danke dafür.