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Ein Sommer in Berlin-Moabit: Perleberger Str. 13

Ich war gerade nach Moabit gezogen. Es war mein erster Sommer in Berlin nach 25 Jahren. Man schrieb das Jahr 1984 – also fünf Jahre vor der Wende. Während ich mich auf Berlin freute, warteten die Berliner darauf ihre Stadt zu verlassen. Alle packten ihre Koffer, um aus der Ummauerung zu fliehen.

Ich wusste, dass die Daheimgebliebenen davon nur Vorteile hatten: Während das Radio Staumeldungen brachte, wie, „vor dem Kontrollpunkt Dreilinden jetzt nur noch 6½ Stunden Wartezeit… „, konnte ich sicher sein, in den nächsten Wochen meinen Parkplatz direkt vor der Haustür zu finden. Das Strandbad Tegel hatte ich fast für mich allein und auch vor den Eisdielen gab es keine Warteschlangen.

Ich liebte diese Stadt meiner Kindheit und wollte sie für mich zurückerobern. Alle Wege wollte ich wieder gehen, alle Plätze wieder kennen lernen: den Tegeler See, den Grunewald, die Wege entlang der Spree und – für mich neu – auch den autofreien Spaziergang quer durch die Stadt entlang der Mauer.

Aber dann machte ich den entscheidenden Fehler: ich erzählte meinen Nachbarn und Freunden von meinen Sommerplänen.

Am nächsten Tag stand Karin Haseduck, eine Bekannte aus der Nachbarschaft, mit einer Flasche Wein vor der Tür. Nach dem ersten Glas Bordeaux war es heraus: ob ich nicht während der sechs Wochen ihre Blumen auf dem Balkon gießen könnte. Ich war schon so beschwipst, dass ich es nicht schaffte, „nein“ zu sagen. Statt dessen beklagte ich mich bei meiner Freundin, Irene, über diese Zumutung. Sie stimmte mir zögerlich zu, entwickelte dann aber – für mich zunächst nicht ganz durchschaubar – ein Szenario, bei dem ich weit weniger zu tun hätte, wenn nämlich die Pflanzen in meiner Wohnung stünden, also viel leichter zu gießen wären. Deshalb würde sie mir auch gleich ihr Ikea-Regal mitliefern. Das sei der ideale Raumteiler, der mein Wohnzimmer verschönern würde und ihre Begonien in allen Größen und Farben würden es mir mit ihrer Schönheit danken.

Als kurz darauf meine Wohnungsnachbarn, Ursi und Georgette, klingelten, um mich zum Abendbrot einzuladen, fühlte ich mich relativ sicher, denn ich wusste, dass sie keine Blumen auf dem Balkon hatten und auch sonst höchstens frische Schnittblumen mochten. Trotzdem lenkten sie das Gespräch sehr bald auf meine Sommerpläne in Berlin. „… und da haben wir gedacht, weißt du, wir haben doch seit ein paar Wochen diesen unglaublich singfreudigen Kanarienvogel, der uns schon frühmorgens mit seinem Lied weckt. Und auch tagsüber wird er nicht müde zu singen und zu schmettern. Du wirst ihn lieben! Unser Dilli ist sehr zahm. Er ist es allerdings gewohnt, frei herum zu fliegen. Das ist jedoch kein Problem – was die Kleckse betrifft – denn er sitzt überwiegend auf diesem Ficus Benjamini, den wir extra für ihn gekauft haben.“ Der Ficus Benjamini erinnerte mich beim ersten Anblick irgendwie an den Kölner Dom mit seinen Tauben. Trotzdem konnte ich es nicht verhindern, dass Ficus Benjamini und Kanarienvogel noch am gleichen Abend in meinem Arbeitszimmer ihren Sommerplatz fanden. Es verstand sich von selbst, dass Fenster und Balkontüren geschlossen bleiben mussten, wenn der Kanarienvogel herum flog.

Immerhin konnte ich es wegen des Kanarienvogels abwenden, dass die 3 Rasse-Katzen von Antje aus dem Nachbarhaus ihr Sommerquartier bei mir aufschlugen. Ich musste mich allerdings verpflichten, sie täglich zu füttern und jeden Tag das Katzenklo zu wechseln.

Leider bekamen die Begonien von Irene bereits nach einer Woche Blattläuse. Wegen des Kanarienvogels von Ursi und Georgette verbot es sich, hier Gifte einzusetzen. Statt dessen kochte ich Brennnesseln und Zwiebeln aus und tauchte die Pflanzen in diese Brühe. Gerne hätte ich, während die Düfte der Brühe durch meine Wohnung zogen, gelüftet. Das ging jedoch nicht, wegen des frei herum fliegenden Kanarienvogels von Ursi und Georgette.

Mein Tag war jetzt streng durchstrukturiert. Ich zog es zunehmend vor, die wenige verbleibende Zeit auf meinem Balkon zu verbringen. So saß ich eines Abends dort, als ich ungewöhnliche Laute vernahm. Sie klangen etwa so: “ Anna ist ziemlich dick“, oder eher: “ Anna ist manchmal dick.“ Dabei war die Betonung merkwürdig auf dem zweiten A.: „Annaaaa ist manchmal dick“, dann ein leichtes Räuspern oder Krächzen und dann immer wieder: „Annaaaa ist manchmal dick.“ Als ich vorsichtig um die Ecke guckte, saß da ein hübscher bunter Papagei. Ein faszinierendes Tier! Mit dem Kanarienvogel-Futter lockte ich ihn in die Wohnung. Er begann sofort an den Begonien von Irene zu knabbern, weshalb ich ihn in mein Gewächshaus mit den Orchideen setzte. Allerdings kappte er auch dort die Blüten. Darum besorgte ich ihm am nächsten Tag einen großen Käfig, denn der von Dilli war einfach zu klein. Es stellte sich heraus, dass er sich sehr gut mit dem Kanarienvogel von Ursi und Georgette verstand und mit ihm durch die Wohnung flog. Allerdings war ich mit allen wichtigen Dokumenten aus meinem Arbeitszimmer in mein Schlafzimmer gezogen.

Um die Besitzerin des Papageis zu finden, gab ich den Fund nicht nur bei der Polizei gegenüber und im Fundbüro bekannt, sondern ich heftete auch Anschläge an die Bäume in der Perleberger Straße. Wem gehörte dieser seltsame Papagei? Ich stellte mir eine Frau vor, die Anna hieß und Gewichtsprobleme hatte. Vielleicht hatte sie ihrem Papagei diesen sonderbaren Satz beigebracht, damit er sie beim Kampf gegen die Pfunde unterstützte. Ich versah also meine Anschläge mit der Aufschrift: „Sprechender Papagei von dicker Anna zugeflogen.“ Ich dachte sie würde dann schon wissen, und ich könnte dadurch ausschalten, dass sich ein falscher Besitzer meldet. Niemand meldete sich.

So verging der Sommer. Gerade hatte ich mich an alle gewöhnt: an die Blumen, an den Kanarienvogel, auch an die Katzen im Nachbarhaus aber vor allem an den wunderschönen Papagei. Sein ständiges „Annaaaa ist manchmal dick“, ließ mich allerdings auch über meine Figur nachdenken und so beschloss ich, eine Woche lang zu fasten.

Als die Nachbarn aus dem Urlaub zurückkamen, hatte ich zwar nichts von Berlin gesehen, aber ich war – auch wegen der vielen Botengänge – rank und schlank und guter Dinge, da ich eigentlich Blumen und Tiere liebe und mir vor allem der Papagei so viel Spaß machte. Ich war sehr froh darüber, dass sich niemand gemeldet hatte, um ihn abzuholen.

Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Es hatte sich bei den Nachbarn herumgesprochen, dass er mir zugeflogen war. Eines Tages klingelte es an meiner Haustür und dort stand nicht etwa eine dicke Anna, sondern ein schmächtiger, dunkelhäutiger Türke. Er hätte gehört, ich hätte seinen Papagei gefangen. Er wolle ihn zurückhaben. Ich war ziemlich verdutzt. Und eigentlich auch verärgert, und ich glaubte ihm nicht, dass es sein Papagei sei. „Wieso kommen Sie erst jetzt und können Sie überhaupt beweisen, dass das Ihr Papagei ist.“ Der Mann erklärte, er sei erst jetzt von seiner sechswöchigen Türkei-Reise zurückgekommen. „Ja wer hätte denn dann inzwischen auf den Papagei aufpassen sollen? – Den haben wir vor den Ferien im Fritz-Schloss-Park ausgesetzt – wir konnten ihn ja schließlich nicht mit in die Türkei nehmen. Aber der ist zahm und findet immer wieder nach Hause. Aber nun sind wir zurück und wollen ihn wieder haben.“ „Und wer ist Anna? Warum haben Sie ihm den Satz von der dicken Anna beigebracht?“ Er verstand nicht, wovon ich spreche und schon meinte ich, ihn beim Lügen ertappt zu haben. „Wie sieht denn der Papagei aus? Können Sie ihn überhaupt beschreiben?“ fragte ich voll Optimismus. Der Mann kannte jedoch ganz genau jede Feder jede Farbe. Aber von einer dicken Anna hätte er noch nie was gehört, der Papagei würde ohnehin nur türkisch sprechen.

Ich holte den Papagei. Er sprang sofort dem Mann auf die Schulter und knabberte an seinem Ohr, würdigte mich keines Blickes mehr und sagte kein Wort. Ich gab mich geschlagen und rückte den Papagei heraus. Den Käfig und das viele gekaufte Vogelfutter wollte der Mann nicht haben. Das hätte er alles selber. Aber er dankte mir dafür, dass ich den Vogel den Sommer hindurch durchgefüttert hatte, drückte mir die Hand und verabschiedete sich mit einem freundlichen: „Allah is maladik“. „Annaaa ist manchmal dick“, hörte ich ganz deutlich den Papagei antworten.

Autorin: Mareili von Lampe

3 Kommentare auf "Ein Sommer in Berlin-Moabit: Perleberger Str. 13"

  1. 1
    Annemarie Depisch says:

    Eine lustige Begebenheit mit einem unerwarteten Ende, das ja oft eine gute Geschichte ausmacht.
    Zudem passt sie ganz genau in diese Gegend von Berlin.
    Es hat Spaß gemacht, sie zu lesen.

  2. 2
    Silke says:

    Wunderbar. Das ist toll zu lesen. Sie sollten das als Buch herausbringen. Würde es ich sofort kaufen.
    Danke!

  3. 3
    Mieter-Aktivist says:

    Schöne Geschichte, aber hier mal was ganz anderes zu diesem Haus: Leerstand!
    https://wem-gehoert-moabit.de/2020/08-kundgebung-gegen-leerstand-perleberger-strasse-13

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