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Berlichingenstraße

Das Verwaltungsgebäude für Arbeitslose von Berlin-Mitte mit den Einzugsgebieten der Bezirke Tiergarten, Wedding und Prenzlauer Berg liegt am oberen Ende der Berlichingenstraße im Norden des Stadtteils Moabit. Es ist ein langgestrecktes rotes Backsteingebäude mit vier Etagen, einer verglasten Eingangspforte und einem Hausbriefkasten, der links neben der Pforte angebracht ist. „Bitte Ihre BG-Nummer angeben!“, werden die Absender auf einem Schild in großen roten Buchstaben angewiesen.

Ich selber habe meine Post für längere Zeit stets an einem Mittwoch erledigt. Zum einen um sicherzugehen – man kann ja nie wissen -, zum anderen um das Porto zu sparen, und zum dritten: mittwochs ist das Amt geschlossen. Die Straße ist ruhig, kein Mensch weit und breit und hinter den Fenstern des Verwaltungsgebäudes leuchten beruhigend die Lampen auf diversen Schreibtischen, die sich vermuten lassen. Und weil auch ich mich an Anweisungen halte, dann nämlich, wenn sie wirklich wichtig sind, habe ich meine BG-Nummer auf keinem meiner Briefe vergessen. Konnte ich doch so sichergehen, dass jeder Brief umso leichter und schneller dem richtigen Schreibtisch zugeordnet sein würde.

BG.-NummerAch ja, vielleicht sollte ich es doch erklären, für Außenstehende gewissermaßen: Die Buchstaben BG sind eine Abkürzung für das Wort Bedarfsgemeinschaft, wobei, wie in meinem Fall, die Gemeinschaft auch nur aus einer Person bestehen kann. Ich habe also während dieser Zeit mit mir selber eine Gemeinschaft gebildet, und eine bedürftige dazu. Haustiere werden – wer weiß, wie lange noch? – nicht zur BG dazugezählt, so dass es meine Katze, die seit zwei Jahren mit mir lebt, von Amts wegen gar nicht gibt. Wer autonom ist in meiner Gemeinschaft, ist folglich meine Katze. – Sie ist allerdings dennoch bedürftig, nämlich nach meiner Gesellschaft.

Wenn man arbeitslos geworden ist, bildet man also mit sich selbst eine Gemeinschaft, und auf den Formularen, die für den Bezug des Unterstützungsgeldes erforderlich sind, ist eine Erweiterung der Bedarfsgemeinschaft bereits vorgesehen. Es gibt die freien Felder für Angehörige, auch Kinder, die hinzutreten werden.

Außerdem habe ich festgestellt, dass die Beschriftung der Briefe mit der BG-Nummer keinen Einfluss auf die Schnelligkeit der Bearbeitung des Antrages hat.

Aus: Nadja Messerschmidt, Berlichingenstraße – Berlinschnitte. Gespräche mit Arbeitslosen.

Einen weiteren Text (ALG II) aus dem entstehenden Buch lesen sie hier.

Zur Autorin:
Nadja Messerschmidt (Foto:privat)44, promovierte Soziologin, in Ostberlin geboren, seit 20 Jahren in Westberlin lebend, z.Zt. Unterricht in Deutsch als Zweitsprache für Erwachsene mit Migrationshintergrund. Prosaversuche / schreibend erst seit kürzerer Zeit mit einer ersten Lesung von Textausschnitten eines Buchprojekts im Stadtschloss Moabit im Januar 2009.

Zum Buch:
In ihrem derzeit entstehendem Buch greift Nadja Messerschmidt die Problematik von Arbeitslosigkeit als literarisches Thema auf – eine Problematik, die in ihrer gesellschaftlichen Dimension (heute) kaum wahrgenommen wird und nachgerade als tabuisiertes Thema erscheint, denn in der gegenwärtigen Literatur taucht dieses Thema kaum auf. In erzählender und auch dokumentarischer Weise versucht die Autorin, die verschiedensten Lebenssituationen und Öffentlichkeiten arbeitsloser Menschen zu erschließen – durch Gespräche auf der Straße und durch private Begegnungen. Ihr Buch ist eine Sammlung von Porträts von Menschen, die in sensibler und einfühlsamer Weise von sich selbst erzählen.

2 Kommentare auf "Berlichingenstraße"

  1. 1
    Aro Kuhrt says:

    Westberlin? Gibts das denn noch? 😉
    Aber ansonsten ein sehr treffender Text!

  2. 2
    EK says:

    Leider sagt der Text nichts Neues oder Interessantes aus. Schade, ich hätte mir tatsächliche Gespräche mit Arbeitslosen gewünscht. Welche Probleme haben sie? Werden diese gelöst? Wie?

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