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Herr Dehmel – Kioskbetreiber in der Wilsnacker Straße

Damals, vor vielleicht zwanzig Jahren, war hier richtig Leben drin.

Im Kiosk von Herrn und Frau Dehmel in der Wilsnacker Straße werden seit über sechzig Jahren Neuigkeiten ausgetauscht, man hält einen kurzen Plausch, die Stammkundschaft kennt sich seit vielen Jahren. „Mein Vater hat bei der ersten Besitzerin des Kiosks als Aushilfe gelernt“, erzählt Herr Dehmel. „Dann, vor vielleicht fünfundzwanzig Jahren, hat mein Vater meinen Vorgänger hier im Kiosk wiederum angelernt. Dieser hat dann neunzehn Jahre den Kiosk geführt.

Ja, und vor sieben Jahren habe ich dann den Kiosk übernommen. Mein Vater war einverstanden mit der Idee, uns sonntags zu helfen. Damals holten sich die älteren Kunden gerne persönlich ihre Zeitung ab, so hätte mein Vater zusätzlich Gesellschaft gehabt, er kannte ja manche Kunden noch aus seiner Zeit als Kioskbetreiber. Er wohnte gleich hier gegenüber in seiner Wohnung, erst mit meiner Mutter, später allein. Auch deshalb habe ich mich für diesen Standort entschieden und den Vertrag unterschrieben. Dann ist mein Vater zwei Monate vor Geschäftseröffnung gestorben. Das sind die Zufälle des Lebens. Man weiß nie, wofür alles gut ist. Ich bin geblieben.

Angefangen habe ich mit Rauchwaren, Zeitungen und Zeitschriften. Später kamen Lotto und BVG- Ticketverkauf hinzu. Als es die Bäckerei gegenüber noch gab, hatten wir natürlich mehr Laufkundschaft, Schrippen und Zeitung gehören eben zusammen. Der viele Leerstand im Kiez macht uns zu schaffen, ich glaube, die Mieten sind einfach zu hoch. Und in der Turmstraße wird nur noch Billigramsch verscheuert, es gibt noch nicht einmal richtiges Brot hier. Außer nebenan im Bioladen, aber der ist vielen zu teuer.

Wir leben von unserer Stammkundschaft. Wir verkaufen etwa zweihundert Tageszeitungen am Tag, die Rauchwaren laufen relativ gut, das Sortiment ist auf die Kundenwünsche abgestimmt. Da legt man schon vorher die Packung hin, bevor der Wunsch geäußert ist. Natürlich, wenn Gerichtstag ist, das merke ich schon. Dann kommen manche Richter hierher und kaufen den Tagesspiegel oder Zigarillos. Die Leute hier sind einfache Leute. Aber die nachbarschaftliche Hilfe wird gepflegt. Moabit-Ost ist ein Wohnkiez. Damals, vor vielleicht zwanzig Jahren, war diese Straße eine blühende Verkehrsstraße. Hier war richtig Leben drin!

Aber jetzt kaufen die Älteren nur ihre Tageszeitung, Kinder kaufen mal ein Trinkpack. Manchmal wollen die Heranwachsenden auch Zigaretten kaufen. Will ich mir den Ausweis zeigen lassen, dann fallen Worte, die nicht so schön sind. Außerdem hat man vielfach versucht, hier einzubrechen, und es gab einen bewaffneten Überfall. Natürlich muss ich nach wie vor zu allen Leuten freundlich sein, auch zu denen, die mir nicht passen. Man muss seine Existenz behalten und sich entsprechend zusammennehmen, obwohl man vielleicht anders denkt.“

Zum Abschluss fragen wir noch, ob er etwas ändern wolle: „Nein, mir gefällt es gut hier. Ich fühle mich wohl und komme gerne aus Britz jeden Morgen her. Obwohl Britz schon eine andere Welt ist, dort ist es viel entspannter. Aber, eine Sache macht uns doch zu schaffen: Der ehemalige Radweg vor unserer Ladentür, das ist kein Radweg mehr. Aber die Leute fahren trotzdem dort weiter Rad. Der Bürgersteig ist zu schmal für einen Radweg. Die Kunden kommen aus meinem Kiosk, und es gibt Unfälle. Aber wehe, man spricht die Radfahrer darauf an, dann gibt es wieder Ärger. Der Radweg ist ein Problem, besonders im Frühjahr. Schreiben Sie das.“

Text: Carsten Cremer, Foto: Dan Abbott

Dieser Text stammt aus einer Broschüre, die am 5. Mai  im Quartiersmanagement Moabit-Ost vorgestellt wird: Die Insulaner – Eine Dokumentation über das Leben und Arbeiten in Moabit-Ost
Ein deutscher Ethnologe und ein englischer Illustrator machen sich auf nach Moabit. Sie führen Interviews mit Menschen auf der Straße, am Arbeitsplatz oder zu Hause. Das Ergebnis ihrer Arbeit liegt nun als Buch vor, sie präsentieren es gemeinsam mit dem Quartiersmanagement am 5. Mai in einer Ausstellung. Die Texte und Fotos werden danach eine Zeit lang in verschiedenen Schaufenstern im Quartier zu entdecken und zu lesen sein.
Carsten Cremer und Dan Abbott portraitierten 17 Menschen aus dem Kiez zwischen Turm- und Perleberger Straße. Über einige von Ihnen wurde bei MoabitOnline auch schon berichtet. Die Broschüre entstand im Rahmen des Projekts Leben, Wohnen und Arbeiten in Moabit Ost.
Ein Projekt von allourmemories. Büro für urbane Kommunikation im Auftrag des Quartiersmanagements Moabit-Ost. Das Projekt wurde gefördert durch das Programm Soziale Stadt. Jugendliche aus dem Kiez waren daran beteiligt, suchten die Personen aus, die interviewt werden sollten, machten Fotos und Interviews.

Die ganze Broschüre gibt es als pdf-Download (2,0MB).

Ausstellungseröffnung am 5. Mai 2011 um 16.00 in der Wilsnacker Straße 34 in den Räumen des Quartiersmanagements Moabit-Ost. Hier ist die Einladungskarte herunterzuladen.

Nachtrag:
Hier ist der Artikel aus der Berliner Woche vom 18. Mai über die Broschüre, sie kann übrigens kostenlos im QM-Büro in der Wilsnacker Straße 34 abgeholt werden.

9 Kommentare auf "Herr Dehmel – Kioskbetreiber in der Wilsnacker Straße"

  1. 1
    Aro says:

    Ich gehe sehr gerne dort einkaufen. Er und die (seine?) Frau sind immer freundlich und hilfsbereit und bestellen auch gerne Fachblätter, wenn sie im Laden nicht vorrätig sind.
    Ich fänd’s übrigens gut, wenn auch die genaue Adresse dazugeschrieben wird, so kurz ist die Wilsnacker ja nicht. Leider weiß ich aber die Hausnummer auch nicht auswendig 🙁

  2. 2
    Yiannis HD. Kaufmann says:

    Meine Hunde lieben den Laden, weil sie kaum sonst irgendwo so zuvorkommend gefüttert und gekrault werden … übrigens fast jeder Hund wird dort zum Kuscheltier!

    An Freundlichkeit und Service ist der Laden mit seinen drei Leutz kaum zu übertreffen – Kommunikation ist angesagt und das in einer Form, die sicher jedem Kiezanspruch gerecht wird.

    Ach ja … es gibt eigentlich alles an Printmedien, was sich auf dem Markt tummelt und das, was fehlt, wird bestellt. Darüber hinaus die unvermeidbaren Tabakwaren (nur so am Rande: Keine ‚Rauchwaren‘!), Getränke, Süßigkeiten (im ‚Pfennig’bereich) und Lotto …

    Nora und die Demels machen den Kiez lebenswerter!

  3. 3
    Rané says:

    Selten, aber diesmal kann ich voll und ganz zustimmen. Es ist die Wilsnacker Strasse 61 und nebenan ist das Lei e Lui, ein Biorestaurant, einmalig in Berlin, betrieben von Karin und Sebastiano.

  4. 4
    Aro Kuhrt says:

    Irgend ein Arschloch (‚tschuldigung) hat heute Mittag den Laden überfallen. Frau Dehmel ist dabei leicht verletzt worden, der Täter konnte fliehen. Wenigstens die Beute, die er unterwegs weggeworfen hat, konnte sichergestellt werden.

  5. 5
    L.S. says:

    zu 4:

    In einem solchen Fall, finde ich, ist eine derartige Bezeichnung völlig angemessen. Menschen, die so etwas tun, verdienen unsere absolute Verachtung. Ich hoffe nur, dass sich Frau und Herr Demel schnell von dem Schock erholen werden. Wer schon einmal Opfer eines Raubüberfalls war, wird wissen, wie lange es dauern kann, bis man sich wieder einigermaßen angstfrei verhalten kann. Wer das Interview oben sorgfältig gelesen hat, der konnte dem Rückblick von Herrn Demel entnehmen, dass die Sitten offensichtlich rauer geworden sind.

  6. 6
    L.S. says:

    Dazu passt wohl auch folgende Meldung zur Berliner Kriminalitätsstatistik 2011:

    http://www.tagesspiegel.de/berlin/statistik-fuer-2011-kriminalitaet-in-berlin-steigt-drastisch-an/5995276.html

  7. 7
    Moabiterin says:

    Schade, habe heute gesehen, dass ein Schild am Laden steht „zu verkaufen“. 12 Jahre waren die Dehmels eine echte Bereicherung für den Kiez.

    Übrigens @ 3,
    auch wenn schon ewig her:
    https://moabitonline.de/16083

  8. 8
    Rané says:

    Vermute mal, der Eigentümer hat die Pacht erhöht. Dann ist auch bald mit „Lei e Lui“ Schluß. Ich kenne diese Person, ein geldgeiler Jurist.

  9. 9
    Aro Kuhrt says:

    Mittlerweile befindet sich in den komplett umgebauten Räumen Eine Mischung zwischen Zeitungsladen und Spätkauf. Das Zeitschriftenangebot ist geringer, dafür gibt es nun auch Getränke.
    Das Ehepaar Dehmel ist im vergangenen Jahr in die Rente gegangen.

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