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Die Refo vor 100 Jahren

Kirche im Arbeiterbezirk (1918 – 1933)

Vortrag im Campus Reformation am 6. April 2018 anlässlich des Jahresempfangs des BALZ zur Neueröffnung in der Beusselstraße 35 (als pdf lesen)

Wir sind in Berlin-Moabit, das erst durch die Industrialisierung zu dem Moabit wurde, das wir heute kennen. 1840 hatte Moabit 986 Einwohner, 1860 bereits 8200. Danach entwickelte sich die Einwohnerzahl geradezu explosionsartig und erreichte 1900 fast 160.000.  Den mit weitem Abstand stärksten Bevölkerungsteil bildete die Arbeiterschaft. Diese zugewanderten Arbeiter lebten mit ihren Familien in geschlossenen Mietskasernenblöcken, die sogar im Vergleich mit anderen Berliner Mietshausgegenden noch als schlechter beschrieben werden.

„Die Wohnungsnot war und blieb indes groß, und Moabit hielt den traurigen Rekord in der ‚Wohndichte‘: Nirgendwo sonst im Berliner Raum lebten so viele Menschen auf den einzelnen Grundstücken, nirgends herrschte eine solche räumliche Enge und nirgends waren die Missstände so krass. Ein- und Zwei-Zimmer-Wohnungen überwogen, und viele Familien sahen sich gezwungen, eines ihrer Betten oder einen Strohsack an einen sogenannten ‚Schlafburschen‘ zu vermieten, um überhaupt die teure Miete aufbringen zu können.“[1]

Ein Indikator für die soziale Situation Moabits war die Säuglingssterblichkeit, die im Jahr 1900 im vornehmen Hansaviertel „bei ungefähr 5 Prozent lag“, während „sie in den Arbeiterquartieren Moabits … fast 30 Prozent“ betrug.

Das Elend der Masse der Arbeiterfamilien wurde vom kaiserlichen Staat ignoriert und dass Moabit zu einer der ersten Hochburgen der Berliner Sozialdemokratie wurde, mindestens so rot wie der bekanntere „rote Wedding“, erstaunt nicht. Die Sozialdemokratie entwickelte in Moabit ein dichtes Netzwerk von Partei- und Gewerkschaftsgruppen, von Sport- und Bildungsvereinen und Konsumgenossenschaften. Das bildete sich auch bei den Wahlen ab.

Bei den Reichstagswahlen wurden in Moabit seit 1884 nur noch sozialdemokratische Kandidaten gewählt und der SPD- Stimmenanteil erreichte 1912 heute unglaubliche 80%.

Wir sind heute in der Reformationskirche Moabit, die wie die Gemeinde erst 1907 entstand. Zum Gemeindegebiet gehörte eines der größten Berliner Industriegebiete. In unmittelbarer Nähe der Kirche befanden sich die Werke der Werkzeugmaschinenfabrik Loewe (Huttenstraße), wo vor allen Waffen für das kaiserliche Heer und den Export produziert wurde. Ebenso die Werke der Pintsch-BAMAG (Maschinen und Apparate für den Gas- und Wasserbereich), das AEG Dampf-Turbinenwerk in der Berlichingenstraße und das Glühlampenwerk von OSRAM-Telefunken in der Sickingenstraße 71.  2005 zog in das ehemalige OSRAM-Gebäude das Job-Center Berlin Mitte ein.

Die Reformationsgemeinde wurde gebildet, als durch die Zuwanderung von Arbeitern – überwiegend aus dem deutschen Osten, die traditionell Kirchenmitglieder waren – die Moabiter Alt-Gemeinden massiv wuchsen. Reformation startete mit etwa 40.000 nominellen Gemeindegliedern, entsprechend besaß die Kirche 1250 Sitzplätze, was völlig unangemessen war und zu keiner Zeit benötigt wurde, denn die Moabiter Arbeiterschaft ließ die Kirche faktisch unbeachtet.

 Inmitten des Moabiter Arbeiter- Milieus bildete die Reformationsgemeinde einen völligen Fremdkörper, eine bürgerliche Insel, um die ringsherum eine andere, fremde Welt existierte. Im Gemeindekirchenrat und der Kerngemeinde waren die örtlichen Gewerbetreibenden, kleine Angestellte und Beamte vertreten, die politisch wie theologisch konservativ waren. Diese „Lagermentalität“ und das Unverständnis und das Desinteresse für die Welt der Arbeiter prägt Selbstdarstellungen der Gemeinde noch Jahrzehnte später. Der Streik in der Kohlenhandlung Ernst Kupfer und Co., der die sogenannten „Moabiter Krawalle“ auslöste, ist hierfür ein gutes Beispiel.

Am 19. September 1910 begannen die Transportarbeiter dieser Kohlenhandlung, die in der Sickingenstraße in unmittelbarer Nähe der Reformationskirche ihre Niederlassung hatte, einen Lohnstreik. Sie fordern angesichts der Teuerung eine Erhöhung der Stundenlöhne von 43 auf 50 Pfennig und die Anerkennung des freien, sozialdemokratisch orientierten, Transportarbeiterverbandes als Verhandlungspartner für Tarifverhandlungen. Die Unternehmensleitung weigerte sich, sperrte die Arbeiter aus und versuchte, Streikbrecher zu organisieren. Zusätzlich wandte sie sich an den Staat um Unterstützung und Schutz der Streikbrecher.

Polizeieinheiten – heute würden wir sie als kasernierte Bereitschaftspolizei bezeichnen – marschierten in das Gebiet um die Beusselstraße (Beussel-Kiez) ein und provozierten die Bevölkerung. Übergriffe eskalierten und wuchsen sich zu Straßenschlachten zwischen aufgebrachten Arbeitern und der Polizei aus. Das Resultat waren zwei tote Arbeiter, Hunderte von Verletzten und eine große Zahl zu drakonischen Strafen verurteilter Arbeiter.[2]

Wie verhielt sich die Kirchengemeinde während dieser Auseinandersetzungen?

Wenn wir jetzt eine Zeitreise machen könnten, würde ich uns alle in den September 1910 beamen. Was würden wir hier im Kirchenraum vorfinden?

Sofort würden wir Lärm hören, Männerstimmen und das Klirren von Metall und Glas. Wir würden an vielen Stellen Pyramiden von Polizeikarabinern K 98 sehen, denn, wie es ein zeitgenössischer Bericht schildert:

„Der Gemeindesaal glich einem Wallensteinlager. Die Büsten der Reformatoren waren mit Koppeln und Pickelhauben geziert. Es roch nach Zigarren und Bier. Zwischendrin sprangen Moabiter Jungens, Söhne achtbarer und braver ‚Diener des Wortes und der Kirche‘, um die Polizei mit Bier und Rauchwaren zu versorgen.“[3]

Wie kam die Bereitschaftspolizei in die Kirche?

Die preußische Obrigkeit wollte, „um der Aufständischen und Meuterer Herr zu werden“, ein starkes Aufgebot von Polizei im Beussel-Kiez stationieren. Da sich die Hauseigentümer weigerten, der Polizei Unterkünfte in ihren Häusern zu geben – vermutlich wollten sie keinen Ärger mit der Arbeiterschaft – wurde die Kirchgemeinde angefragt, und die stellte bereitwillig, Hof und Gemeindesaal zur Verfügung.

Das erhöhte die Beliebtheit der Kirche bei den Moabiter Arbeitern nicht, die in den nächsten Tagen die großen Kirchenfenster mit Steinen einwarfen und Pfarrer Schwebel[4] tätlich angriffen.

Immerhin hat nach diesen Ereignissen ein Synodaler der zuständigen Kreissynode wenigstens die Einquartierung von Polizei in der Kirche kritisiert, er blieb aber ein „Rufer in der Wüste“, alle anderen Synodalen fanden am Verhalten der Polizei und des GKR nichts zu bemängeln.[5]

Nach dem Ende der „Krawalle“ beantragte die Gemeinde beim Konsistorium einen weiteren Hilfsprediger. Denn:

Infolge des schnellen Anwachsens der Sozialdemokratie ist die Kirchengemeinde jetzt gerade, wie die Unruhen in Moabit beweisen, besonders gefährdet, so dass für die Sammlung und Versorgung der kirchlichen Elemente alles nur Mögliche geschehen muss.“

Die Kerngemeinde muss sich in Moabit wie auf einer von Haifischen belagerten kleinen Insel gefühlt haben.

Springen wir kurz in das Jahr 1920. Am 20. Juni finden im Bezirk Tiergarten, zu dem Moabit gehörte, die Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung statt, die Liste der SPD umfasste 49 Personen. Auf Platz 8 der SPD-Wahlliste steht „Dehn, Günther, Pfarrer, Wiclefstr. 38.“[6]

Zehn Jahre nach dem Streik bei Kupfer und der Polizei in der Kirche kandidiert ein Reformationspfarrer für die, wie es sonst in der Berliner Kirche hieß, kirchenfeindliche Sozialdemokratie. Wer war dieser Mann?

Wer erinnert sich noch an Pfarrer Dehn? So lautete Ende der sechziger Jahre ein kleiner Aufruf im Gemeindeblatt der Moabiter Reformationsgemeinde. Pfarrer Arndt von der Hude – seit 7 Jahren im Amt – wollte den Spuren nachgehen, die einer seiner Vorgänger in dieser Gemeinde hinterlassen hatte… Pfarrer von der Hude bekam eine ganze Reihe von Briefen älterer Gemeindeglieder, die erzählten, was sie noch aus den 19 Jahren von 1911 bis 1930, in denen Dehn in Moabit gearbeitet hatte, in Erinnerung hatten: dass er groß war, meist einen schwarzen Hut trug, Humor besaß und auch bei den Arbeitern Respekt genoss. Man wusste noch Anekdoten aus Unterricht und dem Jugendverein ‚Nordwest‘, von vielen Besuchen bei in Not geratenen Familien oder bei Konfirmanden, von Vertrauen, aber auch von einem gewissen Abstand zum Pfarrer. Aber was Günter Dehn eigentlich wollte, das schien – so jedenfalls der Eindruck von der Hudes – ein großer Teil der Gemeinde gar nicht zur Kenntnis genommen zu haben: eine Annäherung der Kirche an die Arbeiterschaft. Er lehnte Denkmäler für Gefallene in den Kirchen ab, Kriegsspielzeug und militaristisch Erziehung in der ev. Jugend.[7]

Für seine Zeit in Reformation war das Verhältnis zur Arbeiterschaft tatsächlich Dehns wichtigster Inhalt in der Gemeindearbeit. Aber vorher will ich die Eckdaten seiner Biographie nennen.

Günther Karl Dehn wurde am 18. April 1882 in Schwerin/ Mecklenburg als Sohn des Oberpostdirektors Karl Dehn geboren. Er studierte in Berlin und war hier auch als Vikar im Domkandidatenstift. Dann 19 Jahre in Reformation und von 1931 – 1933 Professor für praktische Theologie in Halle.[8]

Dann von der preußischen Nazi-Regierung entlassen. Früh in der „Bekennenden Kirche“ engagiert, war er Dozent an der illegalen Kirchlichen Hochschule Berlin von 1935 – 1942. Zeitweise gehörte er zur theologischen Prüfungskommission, aus der er auf Druck konservativer BK-Kreise wieder ausscheiden musste. Im Dezember 1941 wurde Dehn in einem Sondergerichtsprozeß zu einem Jahr Gefängnis, das er in Moabit und Tegel „absaß“, und zu Pensionsverlust verurteilt. Von 1946 bis 1952 war er Ordinarius für praktische Theologie in Bonn. Er starb am 17.3. 1970 in Bonn. Dehn ist Autor eines umfangreichen Schrifttums. Vor allem seine Bibelauslegungen und Predigtmeditationen fanden eine weite Verbreitung.

Zurück nach Reformation. 1911 trat Dehn hier die 2. Pfarrstelle an. Wie kam ein Theologe aus gutem Hause dazu, ins Proletenviertel zu gehen, wo es doch genügend „gute Pfarrstellen“ in Berlin gab?

Bevor Dehn als theologisch-konservativer Pfarrer 1911 in die Gemeinde kam, hatte er sich auch mit dem Gedankengut der Religiös-Sozialen der Schweiz, Kutter und Ragaz,  vertraut gemacht und sah die Arbeiterbewegung nicht als den geborenen Feind des Christentums, sondern eher als die „verlorenen Töchter und Söhne“ die es heimzuholen galt.  Der religiös-sozial „sensibilisierte“ Dehn wurde in Moabit schnell und direkt mit der Realität der Reformations-Gemeinde konfrontiert.

Ich war von Anfang an in meiner Arbeit nur von dem einen Gedanken erfüllt gewesen: Wie kann man Kirche und Arbeiterschaft in eine positive Verbindung miteinander bringen? Wie kann die Kluft zwischen ihnen, die so breit aufgerissen war, wieder geschlossen oder doch wenigstens überbrückt werden? Nun, jedenfalls nicht auf den bisher gegangenen Wegen.“[9]

Dehn hatte den Vorteil, dass er über gute Beziehungen zur Berliner Kirchenhierarchie verfügte – der Generalsuperintendent Lahusen war sein Schwiegervater – so dass ihn der GKR zumindest anfänglich in Ruhe arbeiten ließ.

Er wandte sich der Arbeiterjugend als Adressat seiner Gemeindejugendarbeit zu. Bis dahin bestanden in der Gemeinde nur die bürgerlichen Gruppen „Jungfrauenverein“ und „Ev. Männer- und Jünglingsverein.“  Dehn, der „Jugend aus dem Arbeitermilieu und am liebsten aus den sozialdemokratischen Kreisen haben“ wollte, wusste, dass er nicht warten konnte, bis diese Jugendlichen von selbst zu ihm in die Gemeindekreise kamen. Er entwickelte, wie wir heute sagen würden, ein Konzept stadtteilbezogener offener Jugendarbeit. In einem leerstehenden Straßenreinigungsdepot in der Moabiter Berlichingenstraße 23, noch im Gebiet der Reformationsgemeinde gelegen, richtete er ein Jugendheim ein.

Dieses Heim wurde ausgiebig frequentiert. Zum einen gab es in Moabit keine Einrichtungen für Jugendliche und zum andern muss das Angebot auch jugendgerecht gewesen sein, denn es „entwickelte sich … ein blühendes Klubleben, das von 80 -100 Jungen bis zu 18 Jahren aufgesucht wurde.“  Finanziert wurde die Arbeit durch Zuwendungen von 600 Mark aus dem staatlichen Fonds für Jugendpflege und mit zusätzlichen kirchlichen Mitteln.

Dehn bildete aus dieser Arbeit heraus den „Jugendverein Nordwest (JVNW)“ als eigenständige Gemeindegruppe, bestehend aus verschiedenen Abteilungen, darunter der Jugendgruppe Eintracht, die praktisch die Lehrlingsabteilung bildete.  Ein Gründungsmitglied dieser Jugendgruppe war Bernhard Göring, der bis 1920 neben dem Vereinsvorsitzenden Dehn als Jugendhelfer die Interessen der Jugend vertrat.

Ich werde, so noch Zeit bleibt, am Ende des Vortrags auf Bernhard Göring – Sozialdemokrat – Gewerkschaftsführer – Religiöser Sozialist und Widerstandskämpfer –eingehen, um ihn ein Stück aus der Vergessenheit zu holen.

Der Jugendverein umfasste Anfang 1916 „75 Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren“ und bestand bis Ende der 20er Jahre.  Dehn hat über seine Moabiter Arbeit und über die religiöse Lage der großstädtischen Arbeiterjugend mehrere damals bahnbrechende Studien publiziert, die heute weitgehend vergessen sind.

Er versuchte über die Arbeiterjugendlichen auch deren Eltern zu erreichen. Es gelang ihm allmählich viele Vorbehalte abzubauen, auch weil er 1914 nicht in die Kriegsbegeisterung der anderen Pfarrer von Reformation einstimmte. Er bekam mit, wie sehr sich die Lebensbedingungen der Massen im Krieg permanent verschlechterten, was Hunger bedeutete und welches Leid in den Familien die zunehmenden Gefallenenmeldungen auslösten.

Er erlebte die Novemberrevolution 1918 als Befreiung vom Krieg, nicht wie seine Moabiter Amtsbrüder als nationales Unglück und Dolchstoß von Juden und Sozialdemokraten in den Rücken des angeblich unbesiegten Heeres. Jetzt war die Chance der Beendigung der Ehe von Thron und Altar, jetzt war die Stunde, auf die „kirchenfremde“ Arbeiterschaft zuzugehen.

Dehn nahm aktiven Anteil an der Arbeit der Moabiter SPD. In seiner Autobiographie berichtet er, dass er bei der Partei oft über „Religion und Sozialismus“ geredet habe.

Das war auch ein Resultat seiner Jugendarbeit, denn außer Bernhard Göring waren noch weitere Jugendvereinsmitglieder in der Moabiter SPD in Funktionen gelangt. Mitglied der SPD wurde Dehn aber erst 1920, er trat während des Kapp-Putsches ein, als die Republik durch einen reaktionären Putsch, unterstützt auch von den konservativen Kräften in den Kirchen, bedroht wurde. Dehn wollte durch seinen Beitritt ein bewusstes Zeichen für die Republik setzen. Diese SPD-Mitgliedschaft bestand nicht sehr lange, er war kein Mann für Parteien. Sein Feld war die Kirche.

Im evangelischen Jugendheim in der Berlichingenstrasse bildete sich 1919 eine der ersten Organisationen christlicher Sozialisten in Deutschland.

Die damalige Ev. Berliner Kirchenzeitung berichtete:

 „Am 27. Februar d.J. hat sich in Berlin auf Anregung von Pfarrer Dehn ein Bund sozialistischer Kirchenfreunde gebildet, der folgende Ziele hat.
1. Er will innerhalb der sozialdemokratischen Kreise unseres Volkes Verständnis für religiöse und kirchliche Fragen erwecken.
2. Er tritt ein für eine freie, selbständige Volkskirche, die weder ein Machtmittel in der Hand des Staates, noch einer bestimmten Partei oder Gesellschaftsklasse sein soll.
3.
Er verlangt aber Stärkung des sozialistischen Einflusses in dieser Kirche. Insbesondere tritt er ein für die Bildung sozialistischer Gemeindekörperschaften sowie für die Wahl sozialistischer Pfarrer in Arbeitergemeinden.
Sozialdemokratische Männer und Frauen, die sich für die Aufgaben des Bundes interessieren, werden gebeten, evtl. eine Beitrittserklärung an den Schriftführer Herrn Bernhard Göring, NW. Wittstocker Str.21, senden zu wollen. Der Mindestjahresbeitrag beträgt 1 M“.
[10]

An diesem Abend traten 17 der anwesenden Besucher dem Bund bei, der bald expandierte und sich auf andere Stadtteile ausweitete. Dies ging der konservativen Moabiter Kirche deutlich zu weit und der GKR Reformation war nicht länger bereit, Dehn unbehelligt agieren zu lassen.

Für den 1. Mai 1919 beantragte Dehn die Überlassung der Kirche für einen Sondergottesdienst der „sozialistischen Kirchenfreunde.“ Das lehnte der GKR ab und so fand der 1. Maigottesdienst nicht in Moabit statt. Dehn fand eine Alternative außerhalb Moabits. Die Berliner Sozialdemokratie platzierte auf ihren zentralen Maiplakaten den Hinweis unter „Nachmittagsveranstaltungen … Bund sozialistischer Kirchenfreunde, 5 Uhr in der Dorotheenstädtischen Kirche.“ Dies war in Deutschland die erste derartige Veranstaltung und Predigt, Liturgie und die Teilnehmerzahl von 400 machten Furore. Dehns Predigt wurde als Broschüre verbreitet und die Resonanz führte dem Bund weitere Mitglieder zu. So viele auch außerhalb Moabits, dass er mit einer anderen, ähnlich ausgerichteten Organisation – dem Bund Neue Kirche am 3. Dezember 1919 fusionierte. Der neue Name war „Bund religiöser Sozialisten“ mit einer Ausgangsmitgliederzahl von bald 1000. Die Gruppe in Reformation gehörte zur Bezirksgruppe Moabit-Norden und gruppierte sich um Bernhard Göring und Günther Dehn.  Das Einzugsgebiet umfasste neben Tiergarten-Moabit den Bezirk Wedding. Der Bezirk bestand bis zum Beginn der NS-Diktatur. Dehn hat mehrere Jahre den Leitungen des Berliner BRSD angehört.

In Reformation wurde allmählich das Klima rauer. Hatte Dehn noch 1921 erstmals einen 1. Mai-Gottesdienst in der Reformationskirche durchführen können, lehnte der GKR in den Folgejahren alle diesbezüglichen Anträge ab. Die Konservativen in der Kirche hatten bei den Kirchenwahlen 1921 die für sie beruhigende Erfahrung machen können, dass die Arbeiter kaum an der Wahl teilnahmen und die kleine bürgerliche Bevölkerungsminderheit so die Wahl für sich entschied. Zwar gelangten auch in Reformation einige wenige sozialistische Arbeiter in die Gemeindekörperschaften (2 in den GKR und 7 in der GV), aber die Mehrheit des GKR war ihnen gegenüber nicht integrationswillig.

Dehn formulierte es so: „Es ist mir gelegentlich gelungen, sozialistische Arbeiter, die persönlich starke christliche Interessen hatten, in den Gemeindekirchenrat hineinzubringen. Sie sind immer wieder nach einiger Zeit ausgetreten, weil sie sich hoffnungslos fremd fühlten.“[11]

Es musste also, so die Kerngemeinde, nichts reformiert werden in Reformation. Dehn hatte nur einen Amtsbruder (von vieren), der bereit war mit ihm wenigstens von Fall zu Fall zu kooperieren. Und da ist ein Ereignis berichtenswert, gerade aus der Moabiter Kirche, wo die bürgerliche Gemeindejugend sich an militärisch ausgerichteten Geländespielen und Hurra-Patriotismus erfreute.

Religiöse Sozialisten führten nicht nur Mai-Gottesdienste durch, sondern in der Adventszeit Friedensgottesdienste bzw. Friedens-Feierstunden.  Der „Deutsche Pazifistenkongreß“ hatte 1921 beschlossen, die Einrichtung eines „Weltfriedenssonntages“ zu propagieren. 1924 führten in Berlin vier Pfarrer in diesem Kontext „Friedensgottesdienste“ durch. Dies waren Dietrich Graue von der St. Marienkirche in Berlin-Stadt I, die BRSD-Pfarrer Piechowski in Neukölln und Francke in Heilig Kreuz/Kreuzberg und Gustav Diettrich von der Moabiter Reformationskirche. Das blieb aber für Moabit leider singulär.

Die religiösen Sozialisten zogen sich aufgrund zunehmender Widerstände seitens der Kerngemeinde immer mehr an die Gemeindeperipherie zurück, die Bezirksgruppe tagte aber noch eine Zeitlang im Jugendheim Berlichingenstrasse, wo sie 1925 noch ihre Weihnachtsfeier durchführen durfte. Das blieb die letzte größere, von mir gefundene, Veranstaltung in Reformation.

In der Gemeinde war Pfarrer Karl Jakubski (geb. 1880) der „starke Mann.“ Er war ein stadtbekannter „Völkischer“ und Rechtsradikaler, der in sich alles vereinte, was wir an Rechtsradikalen nicht so mögen. Antisemitismus, Antirepublikanismus, Militarismus und Antisozialismus. Dass er  „alter Kämpfer“ der NSDAP war, in Berlin die „Deutschen Christen“ mitbegründete, die Evangelische Kirche gleichzuschalten  versuchte und neben Gestalten wie Hossenfelder, Freitag und Themel 1933 der ersten Reichsleitung der Deutschen Christen angehörte, passt ins Bild.

Er war führend daran beteiligt, Dehn aus Moabit herauszumobben. Dieser ging dann – nicht ganz freiwillig, wie mir mehrere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Dehn kannten, versicherten.  Durch die Protektion des sozialdemokratischen Kultusministers Adolf Grimme vermittelt, erhielt er eine Professur an der Universität Halle. Dass er dort wegen pazifistisch zu verstehender Äußerungen zur Zielscheibe der Nazi-Studenten wurde, ist in der Literatur ausreichend dargestellt worden. Weniger allerdings, dass er von Seiten seiner Kirche weitgehend im Stich gelassen wurde. Aber das wäre ein anderer Vortrag.

Der BRSD trat nach Dehns Weggang in Reformation nicht mehr in Erscheinung, die Moabiter Mitglieder trafen sich in Kreuzberg oder in Neukölln, wo BRSD-Pfarrer amtierten und Räumlichkeiten anbieten konnten.

Der Berliner BRSD bestand bis Mitte 1933 und illegal bis mindestens 1940 weiter. Seit 1925 war der Moabiter Bernhard Göring, groß geworden in Dehns Jugendverein Nordwest, Vorsitzender seines preußischen Landesverbandes. Von 1926 bis 1930 gehörte er dem Reichsvorstand des BRSD an, dessen 2. Vorsitzender 1930 wurde. 1931 wählte ihn der Reichsvorstand dann zu seinem Vorsitzenden.

Er organisierte auch nach 1933 weiterhin den Zusammenhalt von Kerngruppen des Berliner BRSD und bildete ein Scharnier zwischen verschiedenen Widerstandsbereichen von SPD, religiösen Sozialisten und Gewerkschaftsgruppen. Es gibt in Berlin keine Bernhard-Göring-Straße und meines Wissens auch in Moabit keinen Gedenkort. Es wäre schön, wenn hier im Campus ein Memorial, und sei es eine Platte an der Wand, möglich wäre.

In der Reformationsgemeinde gehörte kein Pfarrer der Bekennenden Kirche an, mindestens zwei dagegen waren definitiv bei den Deutschen Christen, die Reformation beherrschten. Die kleine BK-Notgemeinde traf sich in der Arminiusmarkthalle und wurde durch auswärtige BK-Vikare mitbetreut. Diese BK-Gruppe bestand während der gesamten Nazi-Zeit und führte über ihre Kassiererin Agnes Kotschi, Beusselstrasse 57a, bescheidene Beiträge an den Berliner BK-Bruderrat ab.

1945 brach mit der Nazi-Diktatur auch das braune Regiment in Reformation zusammen. Was dann kam, ist noch ein anderes Kapitel.

 

Der folgende Teil mit der Kurzbiographie Bernhard Görings wurde nicht vorgetragen, gehört aber inhaltlich dazu.

Bernhard Göring

Bernhard Göring wurde am 21. November 1897 in Berlin geboren und wuchs in Moabit auf. Seine Mutter war Hausangestellte in einer Bankiersfamilie, seinen Vater kannte er nicht. Von 1903 bis 1911 besuchte er die Volksschule. Danach absolvierte er von April 1912 an im Handelshaus N. Israeli eine zweieinhalbjährige kaufmännische Ausbildung, die er gleichzeitig mit dem Erwerb der mittleren Reife abschloss. Seine genaue Berufsbezeichnung war die eines Handlungsgehilfen. Von 1915 bis 1921 war er als Verkäufer, Lagerist, Einkäufer und Buchhalter in der Metallindustrie tätig und zeitweise als Abteilungsleiter in der Eisenbewirtschaftung und Reichstreuhandgesellschaft.

Von 1921 bis 1933 war er in verschiedenen Positionen als Hauptamtlicher Gewerkschafter tätig. Nach dem Verbot der Gewerkschaftsbewegung 1933 betrieb Göring einen Zigarrenladen. 1941 – 1945 war er Abteilungsleiter in der Wirtschaftsgruppe Elektroindustrie. Nach der Befreiung 1945 war Göring wieder als Gewerkschaftssekretär tätig. Er starb in der Nacht vom 1. zum 2. Dezember 1949 auf der Heimfahrt von einer Gewerkschaftsschule in Sachsen an Herzschlag.

Göring war 1916 sowohl Mitglied der SPD, wie auch des Zentralverbandes der Handlungsgehilfen[12] geworden. 1921 wurde er Gewerkschaftssekretär beim ZdA (Zentralverband der Angestellten). 1922 wechselte er als Sekretär und Prokurist der Vermögensverwaltung zum Dachverband der freien Angestelltengewerkschaften, dem AfA-Bund, über. Er war bis zum Verbot des AfA-Bundes 1933 Vorstandssekretär und zuletzt persönlicher Referent des Vorsitzenden Siegfried Aufhäuser. Nach dem Verbot der Angestelltengewerkschaften wurde Göring zur Kristallisationsfigur der illegalen Gewerkschaftsorganisation.

„Nach Errichtung der faschistischen Diktatur organisierte G. im Einvernehmen mit dem Internationalen Bund der Privatangestellten in Amsterdam den Widerstand der kaufmännischen und technischen Angestellten des AfA-Bundes. Er stand in Verbindung mit W. Leuschner und H. Schlimme sowie mit illegalen Gruppen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, der sozialdemokratischen Gruppe Neu Beginnen und Gruppen ehemaliger religiöser Sozialisten. … G. fuhr bis 1937 wiederholt nach Amsterdam und Kopenhagen, um die Verbindungen zu den reformistisch geführten internationalen Gewerkschaftsorganisationen aufrecht zu erhalten. Er wurde 1937 – 1940 von den Faschisten mehrfach verhaftet. 1938 übernahm G. die Leitung fast aller Kreise der illegalen Angestelltenbewegung“.[13]

Nach der Befreiung 1945 war Göring führend am Wiederaufbau von SPD und Gewerkschaften beteiligt. Er unterzeichnete zusammen mit Ernst Lemmer, Jakob Kaiser, Hermann Schlimme und weiteren 4 Gewerkschaftern den „Aufruf des Vorbereitenden Gewerkschaftsausschusses für Groß-Berlin“, der am 15. Juni 1945 veröffentlicht wurde. Am gleichen Tag wurde auch ein „Aufruf des Zentralausschusses der Sozialdemokratischen Partei“ publiziert, der von Göring mitunterzeichnet war und die Reorganisation der SPD einleitete. Damit war Görings Einfluss sowohl in der politischen Partei wie im Gewerkschaftsbereich markiert. In der SPD gehörte er als Mitglied des Zentralausschusses zu der Richtung um Otto Grotewohl, die auf eine Vereinigung mit der KPD orientierte.

Seit Gründung der SED 1946 war er Mitglied des Partei­vorstandes. Auf dem 1. FDGB-Kongress vom 9. – 11. Februar 1946 wurde er zum 2. Vorsitzenden gewählt. Diese Funktion hatte er bis zu seinem Tod inne. 1947/48 war er darüber hinaus Mitherausgeber der theoretischen Zeitschrift des FDGB und Abgeordneter der „Volkskammer.“

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Anmerkungen:

[1] Thomas Lindenberger, „Moabiter Ausschreitungen. Industrialisierung vor den Toren Berlins“, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.) Landgang in Berlin. Stadtgeschichte an Landwehrkanal und Spree, Berlin 1987, S. 140-157
[2] Die SPD-Presse sprach von „Bluturteilen“ und für die Arbeiter war der Moabiter Prozess ein Lehrstück in Klassenjustiz. (Hierzu die SPD-Funktionärszeitschrift „NEUE ZEIT„, Nr.15 v. 13.1. 1911, S. 505-508.)
[3] Gemeindekirchenrat der Ev. Kirchengemeinde Reformation zu Berlin-Moabit (Hg.) Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen 1907 – 1957, Berlin-Moabit 1957, S. 13/14.
[4] Inhaber der 2. Pfarrstelle. Dehn wurde sein Nachfolger.
[5] Verhandlungen der Kreissynode Berlin Stadt II am 31. Mai und 17. Juni 1911, in: Kirchgemeindearchiv Kapernaum, Akte 141.
[6] „Bezirksverordnetenwahlvorschläge des Verwaltungsbezirks II“, in VORWÄRTS vom 15. Juni 1920.
[7]  (Berliner Sonntagsblatt vom 13. November 1988: „Der ‚rote Dehn von Moabit‘. Lebensstationen eines Berliner Pfarrers
[8] 1932 wurde er nach Papens „Preußen-Putsch“ beurlaubt und 1933 aus dem Staatsdienst entfernt.  „1933 a.D.“ (Fischer, Pfarrerbuch Berlin, S. 149.)
[9] Günther Dehn, Die alte Zeit – die vorigen Jahre, München 1962.
[10] Evangelisch Kirchlicher Anzeiger, Nr. 12 vom 21. März 1919, S. 74.
[11] (Dehn, Proletarische Jugend,  Berlin 1929. S. 28.)
[12] Freie Angestelltengewerkschaft, politisch sozialdemokratisch orientiert.
[13] Biographisches Lexikon zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Berlin-Ost 1970, S. 160.

Copyright beim Autor:
Ulrich Peter
, geb. 1952; Studium der Ev. Theologie, der Erziehungs- und Sozialwissenschaften und der Erwachsenenbildung. Diplom-Pädagoge und MA; Promotion in Kirchengeschichte; Berufsschultheologe a.D. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kirchengeschichte der Neuzeit und zur Geschichte des religiösen Sozialismus und der sozialen Bewegungen.

Aus Gründen der Lesbarkeit ist nur an wenigen Stellen die Quelle angegeben. Wer mehr Nachweise und Quellenangaben braucht, kann die Dissertation ausleihen, die in mehreren öffentlichen Bibliotheken vorhanden ist, oder den Autor direkt kontaktieren.

Kontakt:
Dr. Ulrich Peter,  E-Mail: Upeter2964@aol.com

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