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Baustelle verdrängt Flugbörse nach Mitte

Das Reisebüro „Flugbörse“ aus Alt-Moabit 103 ist umgezogen. Die neue Adresse lautet: Invalidenstraße 90, 10115 Berlin. Ein schöner Laden gegenüber des Invalidenparks, an der ersten Straßenbahnhaltestelle nach dem Hauptbahnhof. Auch der Bus 245 hält vor der Tür.

Aber: die Flugbörse ist nicht einfach umgezogen. Sie wurde verdrängt. Von Moabit nach Mitte? Das ist etwas ungewöhnlich.

Die beiden Häuser Alt-Moabit 103 und 104 werden gerade umfassend renoviert und aufgemöbelt. Auf die Nr. 103 wurde ein gläsernes Dachgeschoss aufgesetzt. Wegen des großen Baukrans war sogar eine Straßenseite von Alt-Moabit zeitweise gesperrt und eine Ampel installiert, die den Verkehr einspurig regelt. A BIT MO‘ nennt sich das Gewerbeobjekt – Vermietung der Räume in der Nr. 104 ab letztem Monat, in der Nr. 103 erst ab August 2017, Mietpreise ab 16,50 Euro/m2 netto-kalt in den Etagen – nein, die erste Etage in der Nr. 104 kostet „nur“ 16 Euro/m2, Mietpreise für die Ladengeschäfte „auf Anfrage“ – nein, auf der ausschließlich englischsprachigen Webseite heißt es natürlich „on inquiry“.

Alt-Moabit 103 gehört zum Gelände der ehemaligen Meierei Bolle. Nach dem Ausbau seiner Werksanlagen und kurz vor dem Abriss der ehemaligen Schumannschen Villa und Bau des Kesselhauses an der Spree lässt Carl Bolle 1886 ein kleineres L-förmiges Gebäude als Wohnhaus für seine Werksmeister und leitenden Angestellten errichten, das 1907 mit einem weiteren Wohngebäude verlängert wurde. In den 1960er Jahren zieht im Erdgeschoss der Bolle-Supermarkt ein, später viele Jahre lang Sporthaus Titze. Freiberger erwarb das Bolle-Gelände und baute nach Auseinandersetzungen mit Anwohnern und dem Denkmalschutz über den Bau eines Hochregallager schließlich den Glaspalast im Spreebogen, den er für 30 Jahre an das Bundesinnenministerium vermietete. Die gerichtliche Auseinandersetzung über Mietzahlungen wegen dessen vorzeitigem Auszug läuft noch. 2006 verkaufte Freiberger die beiden Häuser Alt-Moabit 103 und 104 an die CA Immo. Seit Juli 2015 gehören sie der ANH Hausbesitz aus Arnsberg.

Früher saß in den Gewerbeetagen die Staatsanwaltschaft und Rechtsanwälte. Das oberste Stockwerk mit einer wunderschönen Dachterrasse, die längst abgerissen ist, bewohnte 30 Jahre lang Frau Löffler, die jetzt nach Stuttgart umgezogen ist. Heiko Schmidt, Geschäftsführer der Reisen H&M Schmidt GmbH, also der Flugbörse, berichtet: „Wir waren 22 Jahre in Alt-Moabit 103 ansässig und wären auch gerne am Standort geblieben. Aber jetzt ging es nicht mehr. Ende Oktober 2016 wurden wir gekündigt. Als das Haus verkauft worden war, mussten wir einen neuen Mietvertrag unterschreiben, der sich immer nur um ein halbes Jahr verlängerte. So etwas hatten wir noch nie erlebt. Bisher hatten wir immer 5-Jahres-Verträge mit moderaten Mieterhöhungen. Das Verhältnis zu Freiberger war entspannt und auch die CA Immo war ein fairer Vermieter. Aber die ANH hat alle rausgedrängt. Sie wollte ja sanieren.“

In dem kleinen Laden nebenan gab es ein Geschäft zur Haarverlängerung. Die sind zuerst gegangen – schon im Juni 2016. Malaika Hair findet man jetzt in der Grolmanstraße 15 in Charlottenburg. Der große Laden, früher Sporthaus Titze, stand mehr als 10 Jahre leer. Erst im Frühjahr 2015 waren neue Nachbarn eingezogen, die ziemlich viel Geld in den Ausbau ihrer Pizzeria investiert hatten. Aber auch die mussten jetzt raus. Seit Frühjahr 2016 stand das Gerüst und ein großer Kran vor den Läden. Das Haus wurde entkernt. Man kann sich vorstellen welchen Lärm und Staub das verursacht. Der Keller wurde mit Beton vollgepumpt.

Schmidt berichtet weiter: „In unserem neuen Mietvertrag mussten wir auf jegliche Kompensation für die unvermeidlichen Belastungen so einer großen Baustelle verzichten. Wir mussten uns darauf einstellen. Doch im Herbst 2016 fiel die Heizung für mehrere Wochen bis weit in den November hinein aus. Die Rohre waren abgeklemmt. Meine vier Angestellten saßen mit Handschuhen an den Computern. Schließlich stellte uns die Baufirma Bauheizungen hin, die zweimal 3000 Watt verbrauchen. Der Strom dafür ging auf unsere Kosten.“ Diese Episode passt nicht zur Selbstdarstellung des Eigentümers auf der Webseite der ANH: „Wer mit Immobilien arbeitet, übernimmt Verantwortung: Für die Menschen, die in ihnen leben und arbeiten.“

Die Flugbörse war in Moabit verwurzelt. Viele Stammkunden, die über Jahrzehnte dort ihre Reisen buchten, wohnten gleich um die Ecke. Das Einzugsgebiet ist in den letzten Jahren sogar größer geworden, denn viele andere Reisebüros haben zugemacht, seitdem immer mehr Menschen über das Internet buchen. „Wir erleben schon die nächste Generation. Wir haben Kunden, die bereits mit ihren Eltern bei uns Reisen gebucht haben. Unsere älteste Kundin ist leider dieses Jahr mit über 101 Jahren gestorben. Sie ist in Moabit geboren, ging noch lange selbst einkaufen mit einem Hackenporsche bei Kaisers. Im vergangenen Jahr ist sie noch mit uns nach Mallorca geflogen. Da spielte der Computer verrückt, als ich das Geburtsdatum eingeben wollte,“ berichtet Schmidt. Wenn er morgens vom Bahnhof Bellevue in sein Reisebüro ging, traf er täglich einige seiner Kunden unterwegs. Deshalb wollte er mit seinem Reisebüro auch in Moabit bleiben. Die Kündigung kam überraschend. „Wir hatten gehofft, dass wir die Baustelle überstehen. Doch es gab keinerlei Entgegenkommen und auch keine direkten Verhandlungen mit dem Vermieter, wir hatten immer nur mit einem Anwalt zu tun.“ Neue bezahlbare Gewerberäume in Moabit konnten sie nicht finden. Im Schultheiss-Quartier hätten sie zum Beispiel 48 Euro Miete pro Quadratmeter zahlen sollen.

Den Investoren scheint es nur ums Geld zu gehen. So werden gewachsene Beziehungen im Kiez zerstört.

Flugbörse, Invalidenstraße 90, 10115 Berlin, Tel. 030 39902260, service@flycom.de, www.flugboerse.de/berlin-mitte

5 Kommentare auf "Baustelle verdrängt Flugbörse nach Mitte"

  1. 1
    Mieter-Aktivist says:

    Das ist ja mal typisch, in der Bauphase lässt man sich noch die Miete von den alten Gewerbetreibenden bezahlen, trotz Lärm, Staub, Kälte (keine Heizung) und was nicht noch alles.
    Warum eigentlich ein neuer Mietvertrag, wenn der alte noch gültig war? Kauf bricht Miete nicht sagt § 566 des BGB.
    https://dejure.org/gesetze/BGB/566.html
    Allerdings gibt es davon Ausnahmen, wenn z.B. der Mietvertrag von einer Hausverwaltung geschlossen wurde. Obwohl hier ist die Rechtsprechung kompliziert und ich kann nicht behaupten, dass ich sie verstehe. War etwa das der Trick?
    https://www.haufe.de/recht/deutsches-anwalt-office-premium/eigentuemerwechsel-grundsatz-kauf-bricht-nicht-miete-gilt-nicht-immer_idesk_PI17574_HI6447325.html
    Hier eine Zusammenstellung der wichtigen Paragraphen im Gewerbemietrecht:
    http://www.mietrecht.org/gewerbe/gewerbemietrecht-im-bgb/

  2. 2
    Reise-Kundin says:

    Sehr schön, dass ich jetzt weiß, wohin die Flugbörse verschwunden ist, das ist ja gar nicht so weit. An dem Gerüst hängen ja noch die Schilder und auch an der Uhr die Telefonnummer. Ich hätte ja anrufen können.

  3. 3
    Mieter-Aktivist says:

    So geht es in Kreuzberg Oranienstraße, Solidarität mit Gewerbetreibenden:
    http://www.berliner-zeitung.de/berlin/oranienstrasse-gewerbetreibende-protestieren-gegen-verdraengung-28572736

  4. 4
    Netzgucker says:

    Bericht in der Berliner Abendschau über die Aktion:
    https://www.rbb24.de/wirtschaft/beitrag/2017/10/berlin-kreuzberg-protest-gegen-steigende-gewerbemieten-laeden-verdunkeln-schaufenster.html
    Ein Gewerbemietspiegel muss her – aber das dauert. weitere gute Vorschläge: längere Vertragslaufzeiten, Milieuschutz auch auf Gewerbe anwenden, besonderer Kündigungsschutz für soziale Einrichtungen, wie z.B. Kitas:
    https://www.rbb24.de/wirtschaft/beitrag/2017/10/gewerbeimmobilien-mietpreise-bundesratsinitiative.html

  5. 5
    Mieter-Aktivist says:

    Nicht ganz frisch der Artikel, schon von Anfang Januar, aber es gibt immerhin ein Gutachten, das den Weg zu einem besseren Gewerbemietrecht zeigt. Die TAZ „Schutz für Bäcker und Kinderläden“:
    https://www.taz.de/!5472516—/

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