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Damals war’s …

20 Jahre aus dem Leben der heutigen Bruno-Lösche-Bücherei

Bochumer-8b-250Am 16. Januar 1966 jährt sich zum zwanzigsten Male der Tag, an dem die erste Nachkriegsbücherei Moabits in der Bochumer Straße 8 b ihre bescheidenen Pforten öffnete. Zuvor gab es nur im Süden des Bezirks Tiergarten eine Bücherei, die mit einiger Mühe über das Kriegsende hinübergerettet werden konnte. Zwar war einigen unentwegten Lesern der einstündige Fußweg durch den Tiergarten nicht zu weit (eine Bus-Verbindung gab es 1945 noch nicht), um zu den ersehnten Büchern zu kommen. Aber der damalige Leiter des Volksbildungsamtes, Herr Erwin Strouhal, erkannte, dass auch der dicht bevölkerte Ortsteil Moabit wieder eine Bücherei haben müsse, obgleich das ein nahezu unmögliches Unterfangen war. Gab es doch weder Bücher, noch Mobiliar, noch Räume. So wurde improvisierend mit dem Aufbau begonnen.

Einige Bücher fanden sich im Keller des Rathauses als Überreste einer vor Jahren aufgelösten Bücherei; einige beschlagnahmte Bestände kamen dazu; weiteres versuchten wir antiquarisch zu kaufen, was leichter gesagt ist als getan. Man musste die in Antiquariaten aufgestöberten Bücher sofort bezahlen und mitnehmen (ich hatte zu diesem Zweck einen Karton auf dem Gepäckträger des Fahrrades), wollte man nicht riskieren, dass ein anderer Interessent einem zuvorkam. Bisweilen wurde man wie ein Bettler behandelt. Wer wollte es den Buchhändlern auch verargen, dass sie ihre über Nazizeit und Krieg hinübergeretteten Schätze lieber gegen Butter und Eier abgaben als an eine städtische Dienststelle, die nicht einmal Überpreise zahlen durfte. Manchen Thomas Mann, manchen englischen oder französischen Roman, manch anderes lange verboten gewesenes Buch nahm mir ein erzürnter Antiquar, der mich für unverschämt hielt, wieder ab. Die ersten Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt waren übrigens Produktionen des Ostberliner Aufbau-Verlages. Um einen Roman oder einen Erzählungsband auf zeitgemäß schlechtem Papier zu erstehen, musste man ein politisches Propagandabuch mitkaufen.

Die Bücher brauchten Regale, die Kataloge Karteikästen, die Leser und Mitarbeiter Stühle und Tische! Als die Situation hoffnungslos schien, geschah ein Wunder. En stellungsloser Modelltischler, Meister seines Fachs, wurde uns zugewiesen. Hoch sei Herr Saar gepriesen, der das Wunderwerk vollbrachte, aus altem Holz und Möbelresten Regale und Karteikästen zu basteln und einen alten Spieltisch in eine Ausleihetheke zu verwandeln. Im städtischen Möbellager fanden sich Stühle, Tische und andere Kleinigkeiten. Ein großer Konferenztisch, der in einem Rathauszimmer im Wege stand, wurde in die Mitte des Ausleiheraumes gestellt. Wen kümmerte es schon, dass jeder Stuhl ein anderes Modell darstellte und wir scherzhaft von unserer Stuhlausstellung sprachen?

So konnten wir am 16. Januar 1946 in kleinem Kreis und mit einer sehr bescheidenen Feierstunde die improvisierte Bücherei mit 4.000 Bänden eröffnen. Aber über uns schwebte wie ein Damoklesschwert die Drohung, die Räume in der Bochumer Straße 8 b wieder zu verlieren, was das Ende unserer mühevollen und optimistischen Arbeit bedeutet hätte. Dem Hausherren, dem Direktor der Bauschule, war die Bücherei ein höchst unwillkommener Eindringling. Fast jeden Tag hörten wir Drohungen, dass wir zu verschwinden hätten. Erst als Bruno Lösche gewählter Stadtrat für Volksbildung und Fritz Schloß Bürgermeister von Tiergarten waren, konsolidierte sich unsere Situation. Noch lange saßen wir hinter Pappfenstern ohne Glas, aber die große Zahl unserer Besucher bestätigte unsere Existenzberechtigung.

Die Hilfskräfte, die sich zur Mitarbeit meldeten, fragten nicht nach der Höhe ihres Gehaltes, sondern nur: „Welche Lebensmittelkarte bekomme ich?“ Sie bekamen die Karte III (wir bibliothekarischen Fachkräfte erhielten sogar die Karte II), die immerhin besser war als die Karte V, die „Hungerkarte“, die den nicht berufstätigen Menschen gegeben wurde. So blieb man und arbeitete mit, bis sich etwas Besseres fand.

Eines Tages erschienen Mitglieder der britischen Besatzungsmacht in der Bücherei, besichtigten die Räume und bestimmten kurzerhand, dass in unserem Ausleiheraum eine englische Ausstellung stattfinden solle und wir ihn umgehend zu räumen hätten. Widerspruch war nicht möglich. Zwar fand die geplante Ausstellung nie statt (später hörten wir, dass der Kommandant gewechselt hatte und der Nachfolger von dem Plan nichts wusste), aber wir mussten viele Wochen hindurch die Ausleihe in den völlig unzureichenden winzigen Vorraum verlegen, während der schöne große Raum leer stand. Niemand wagte es, den Befehl der Besatzungsmacht zu widerrufen, bis wir auf eigene Verantwortung, wenn auch nicht ohne Herzklopfen, in unseren großen Raum zurückzogen.

Trotzdem sei die britische Besatzungsmacht gelobt! Denn sie verhalf uns zu einem deutsch-englischen Lesesaal. Zum großen Ärger der Bauschule musste für diesen Zweck ein weiterer Raum freigemacht und mit schönen Möbeln, runden Tischen und Polstersesseln eingerichtet werden. Eigentlich sollte es ein englischer Lesesaal, eine „Brücke“ werden, die von einem Dolmetscher verwaltet wurde; doch ich war von Anfang an bestrebt, auch für die nicht englisch lesenden Mitbürger Zeitungen, Zeitschriften und Bücher bereit zu stellen.

Waren Bücher und Mobiliar knapp (der Buchbestand war Ende des Jahres auf ca. 10.500 Bünde angewachsen), so fehlte es an einem nicht: an Lesern. Zu keiner anderen Zeit war die öffentliche Bücherei so unentbehrlich. Wo gab es in der zerstörten Stadt noch einen privaten Bücherschrank, wo etwa noch eine Schüler- oder Lehrerbücherei? Vor allem die Lehrer kamen mit ihren Wünschen zu uns. Am schwierigsten war übrigens der Aufbau der Abteilung Geschichte, da auf diesem Gebiet nach neuen Standorten gesucht werden musste und das nötige Material fehlte. In den Schulen gab es z. B. noch monatelang keinen Geschichtsunterricht.

Schwer war auch die Zeit der Blockade wegen der damit verbundenen Stromsperren. Es kam nicht in Frage, die Ausleihe etwa zu schließen, wenn das Licht plötzlich ausging. Das wäre den Lesern, die in langen Schlangen die Treppe hinunter anstanden, nicht zuzumuten gewesen. Taschenlampen, Petroleumbeleuchtung und ähnliches gab es nicht. Das Einzige, was uns für die Durchführung der Ausleihe zugebilligt wurde, waren Kerzen, mit denen wir von Regal zu Regal gingen, um die Bücher herauszuholen, wobei Regale, Fußböden und Kleidung mit Talg betropft wurden. Später erhielt unser Haus einen Sonderstatus ohne Stromsperre, was zur Folge hatte, dass zur Zeit des Lichtausfalls unsere Räume mit Menschen überfüllt waren, die der heimischen Dunkelheit entgehen wollten. Typisch für die damalige Zeit war übrigens das Geburtstagsgeschenk, das die engeren Mitarbeiter Bruno Lösche zu seinem 50. Geburtstag verehrten: eine Petroleumlampe und ein Liter auf dem schwarzen Markt erstandenes Petroleum.

Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Stadtbücherei war im Jahre 1950 ihr Umzug in schönere, gut möblierte Räume im Rathaus. Die Bücher (es waren inzwischen über 12.000, aber für den Leseransturm immer noch viel zu wenige) standen jetzt auf ordnungsgemäßen Metallregalen. Der Ausleiheraum mit seinen die Säulen umkleidenden Ausstellungsvitrinen bot nach unserem primitiven Anfang einen erfreulichen, ja fast luxuriösen Anblick. Leider reichte der Raum nicht aus, die Bücher im Freihandsystem den Lesern anzubieten. Das blieb dem Jahre 1964 vorbehalten, als die Bücherei – nunmehr den Namen Bruno-Lösche-Bücherei tragend – in ihr eigenes Haus in der Perleberger Straße umzog. Sie umfasst zur Zeit mehr als 30.000 Bücher, die in großen Ausleiheräumen auf die Leser warten, ist mit den modernsten Verbuchungsgeräten ausgestattet und hat lange Öffnungszeiten, die auch den berufstätigen Lesern mit wenig Freizeit (Verkäuferinnen z.B.) den Besuch gestatten: Montag bis Freitag 13 – 19:30 Uhr, Sonnabend 10 – 13 Uhr.

Text: Anneliese Hewig, Bibliotheksrätin

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3 Kommentare auf "Damals war’s …"

  1. 1
    K. S. says:

    Sympathisch und interessant geschrieben!

  2. 2
    Gabriele Teumer says:

    Ich bin auf der Suche nach der Familie von Anneliese Hewig .Können Sie mir dabei behilflich sein?
    Mit freundlichen Grüßen
    Gabriele Teumer

  3. 3
    Susanne Torka says:

    Wir leiten Ihre Anfrage an die Bibliothek weiter.

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