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„Kleinholz für Kartoffelschalen“

Evelin Dehl-Storbeck, Lebenskundelehrerin des Humanistischen Verbandes

Evelin-Diehl_CE-250„Ich lebe und arbeite schon fast mein ganzes Leben in Moabit. Seit über zwanzig Jahren unterrichte ich als Lebenskundelehrerin in verschiedenen Schulen im Kiez. Dort arbeite ich mit Kindern, die mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schule kommen. Auf der einen Seite Kinder aus bildungsfernen Familien, die sehr empfänglich und dankbar sind für alle Angebote,  auf der anderen Seite Kinder aus bildungsnahem  Milieu, die sehr viel Vorwissen mitbringen und intensiv mitarbeiten, gleichzeitig aber auch so übersättigt sind, dass ich fast als Entertainerin auftreten muss, um sie zu begeistern. In meinem Fach habe ich die Möglichkeit, mich viel mit den Kindern zu unterhalten und ich merke immer wieder, wie stark sich ihre Lebenswirklichkeit verändert hat, im Vergleich zu meiner Kindheit. Wenn ich von früher erzähle, machen die Kinder ganz große Augen und selbst ich bin beeindruckt, wie stark sich ein Stadtteil in nur einem Menschenleben verändern kann.

Damals, in den 50ern, steckte den Menschen der Krieg noch in den Knochen. Ich erinnere mich an einen Mann, der immer durch unsere Straße fuhr und laut rief: „Kleinholz für Kartoffelschalen“. Der Pferdewagen, der Bierfässer, Fassbrause und Eisblöcke an die Kneipen lieferte, wurde stets von einer Schar Kinder begleitet, die darauf hofften, dass ein Stück Eis abfiel und Autos waren so selten, dass wir auf kleinen Blöcken die Kennzeichen der Autos aufschrieben, die in der Turmstraße parkten!

Meine Mutter führte über 25 Jahre eine Gaststätte in der Emdener Straße 56, die sie von ihrem Vater übernommen hatte. Als kleines Kind trug sie mich noch im Nachthemd aus unserer Wohnung im ersten Stock hinunter. Sie setzte mich auf den Billardtisch und öffnete zunächst die Kneipe, erst dann wurde ich angezogen. Im Grunde verbrachte ich zusammen mit den Nachbarskindern den ganzen Tag auf der Straße und musste erst nach Hause, wenn die Straßenlichter angingen. Wir Kinder waren viel unter uns, nicht wie heute, wo sich die Erwachsenen immer in alles einmischen. Das Nebenhaus Nr. 54/55 wurde während des Krieges ausgebombt, die dort entstandene Baugrube diente uns lange als Abenteuerspielplatz. Das war oft ziemlich gefährlich und wir trugen viele Schrammen davon, doch insgesamt ging meistens alles gut, auch deshalb, weil wir immer aufeinander aufpassten.

An der Ecke Emdener/Waldenser haben wir uns hin und wieder zum Prügeln verabredet. Dort wurde dann fair gekämpft, der Verlierer wurde von den Schaulustigen ausgelacht und damit war die Sache erledigt. Es wäre uns nie in den Sinn gekommen, diese Kämpfe in der Schule zu führen. Dazu hatten wir viel zuviel Respekt vor den Lehrern. Damals hat man den Kindern nicht so viel Spielraum eingeräumt wie heute.

Zwischendurch habe ich Moabit auch verlassen: Ich war im Ausland und habe einige Jahre in Kreuzberg und im Wedding gelebt. Mehr durch Zufall und wegen der angespannten Wohnungslage zog ich 1985 wieder in meine alte Gegend und bin geblieben. Ich fühle mich sehr wohl hier, doch ich vermisse die vielfältigen Angebote, die es früher auf der Turmstraße gab: Zum Beispiel die Kinderbücherei „Brüder-Grimm-Bibliothek“, in der ich schon früh meinen Durst nach Büchern gestillt habe. Und dort, wo heute Aldi ist, erlebte ich mit Begeisterung die Eröffnung des Maxim-Kinos, eines von fünf Kinos in Moabit.

2005 erfüllte ich mir einen lang gehegten Wunsch und wanderte 655 km auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Meine Wanderung hatte keinen religiösen Hintergrund, sondern ich wurde getragen von der Idee, einen Weg zu gehen, den schon Tausende vor mir gegangen waren. Über meine Erlebnisse habe ich ein Buch geschrieben: „Allein auf dem Jakobsweg. Mein Weg nach Santiago de Compostela“. Während meiner Reise und auch in meinem Beruf als Lebenskundelehrerin habe ich mir natürlich viele Gedanken über den Glauben und Glaubensgemeinschaften gemacht. Während meines Studiums der Religionswissenschaft sagte einmal ein Professor, Intoleranz gehöre zum Charakter aller Religionen, und niemals habe ich das deutlicher gespürt, als ich als Teenager während des Weihnachtsgottesdienstes 1967 in der Gedächtniskirche mit ansehen musste, wie Rudi Dutschke von wütenden Gläubigen niedergeschlagen wurde. Diese Erfahrung hat mich nachhaltig geprägt und zu meinem sofortigen Austritt aus der Kirche geführt. Seitdem setze ich mich für mehr Toleranz ein und bin immer auf der Hut vor fehlender Solidarität. Und genau das möchte ich auch den Kindern im Lebenskunde-Unterricht vermitteln.“

Aufgezeichnet von Nathalie Dimmer, Foto: Christoph Eckelt, bildmitte

Zuerst erschienen in der “ecke turmstraße“, Nr. 4, mai / juni 2013.

Ein Kommentar auf "„Kleinholz für Kartoffelschalen“"

  1. 1
    Vilmoskörte says:

    Es hat sich in der Tat viel verändert. Auch ich habe, wenn auch nicht in Berlin, auf dem benachbarten Trümmergrundstück gespielt, ganz entgegen der Anweisung der Eltern („da könnten noch Bomben liegen“). Und heute beschweren sich aufgeregte Mütter und Großmütter, dass der Spielplatz im Ottopark zu gefährlich sei, da könnten die Kinder ja von den Spielgeräten herunterfallen. Das sind sicher dieselben, die ihre Kinder mit dem fetten SUV-Proletenpanzer 500 Meter zur Schule fahren.

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