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„Man muss in der Gegenwart bleiben“

Seit 32 Jahren führt Marianne Graff ihren Frisiersalon

Die Sache ist einfach: „Wenn man 32 Jahre lang einen Friseursalon im Kiez führt und einen Hund hat, kennt man eigentlich alle“, sagt Marianne Graff. Und deshalb kennen die meisten aus dem Kiez wiederum sie. Marianne Graff weiß auf den Tag genau, wann sie ihren Salon hier in der Bremer Straße eröffnete: am 2. Juni 1979. Damit hat sie sich einen Lebenstraum erfüllt: „Ich hab schon als junges Mädchen das ganze Haus frisiert.“ Ihr Berufswunsch war immer klar, ihre Perspektive ist es auch. „Bis 80 arbeite ich voll, ab 80 dann nur noch halbtags“, sagt sie und lacht.

Dies ist keiner der „Cut & go“-Läden, wo man innerhalb von 20 Minuten einen 10-Euro-Schnitt verpasst bekommt. Marianne Graff begreift ihr Geschäft in schönster Tradition: Hier werden eben nicht nur Haare frisiert, sondern geplaudert, Neuigkeiten ausgetauscht, gelacht, getröstet, gekümmert, Seelen gestreichelt.

Vor dem Friseursalon stehen ein kleines Bänkchen und ein Tisch, außerdem ein Zeitschriftenständer, Blumen, ein Karton mit Büchern. Man kann sich gemütlich hinsetzen und die Nase in die Herbstsonne halten, mit Blick auf die Arminiushalle. Aber das Beste erwartet einen drinnen: Der Salon ist eine herrliche Inszenierung, eine phantastische Bühne, die Marianne Graff immer wieder selbst umdekoriert, je nach aktuellem Anlass, Lust und Laune. Im Moment dominieren Tiger- und Leopardenmuster – selbst der große Spiegel ist mit Leoparden-Plüsch umrahmt. Außer Haarpflegemitteln und Frisierstühlen sieht man Buddhas, eine riesige Vase mit roten Rosen, bunte Lämpchenketten, auf einem Monitor schwimmen Fische zwischen Korallenriffs. Eine Schaufensterpuppe ist etwas knapp mit einer grasgrünen Federboa verhüllt und trägt eine knallige Perücke. An den Wänden hängen Film- und Künstlerplakate. Im hinteren Raum steht eine kleine Bar, eine halbe Wand ist mit Fotos von Veranstaltungen und Parties geschmückt: Denn Marianne Graff frisiert hier nicht nur, sie organisiert auch Lesungen, Events und Feste in ihrem Salon, und man staunt und fragt sich, wie in aller Welt sie in diesem kleinen Laden diese vielen Leute unterbringt.
„Da kommen Kunden und Freunde – auch viele, die keine Haare mehr auf dem Kopf haben“, sagt sie, „wir sind ja zusammen alt geworden.“ Es geht ihr darum, „die Moabiter ein bisschen zusammenzubekommen“.

Die agile Frau ist nicht nur eine leidenschaftliche Friseuse, sondern singt und tanzt auch: Standard, Latein und seit geraumer Zeit Line Dance in einem Verein, mit dem sie schon auf vielen Stadtteilfesten aufgetreten ist, natürlich auch auf dem Arminiusstraßenfest. Sie legt ein Video ein, auf dem Monitor sieht man nun statt der Fische die Tanzgruppe mit Marianne Graff im roten Kleid und mit Westernhut, den sie meist trägt, wenn sie durch den Kiez läuft. Und weil sie viele Künstler im Kiez kennt, hat sie bei der jüngsten Kunstaktion in Moabit auch eine der Führungen durch die offenen Ateliers übernommen.
Hinter dem Empfangstresen sitzt Jürgen, mit dem sie seit 40 Jahren befreundet ist. „Marianne ist eine Künstlerin“, sagt er energisch, und sie albert zurück: „Senioren loben Senioren“, und „Künstler gehen nicht auf Rente“. Um gute Sprüche ist man hier nie verlegen.

Ihre Wohnung liegt direkt über dem Salon. Als sie Ende der 70er hier begann, sei das eine sehr gute Gegend gewesen, „die Markthalle lief gut, es gab schöne Geschäfte“. In den besten Zeiten bildete sie auch Lehrlinge aus und beschäftigte neun Angestellte – derzeit sind es zwei. Durch die Wende und die Euro-Einführung habe sich die Situation im Kiez verschlechtert. Doch inzwischen gehe es wieder aufwärts: „Viele junge Leute ziehen hierher, die Lage ist gut, und die Mieten sind noch vergleichsweise günstig. Die Jungen gründen oft Wohngemeinschaften. In schlechten Zeiten rücken die Leute eben zusammen.“ Dass manche im Kiez den vermeintlich besseren früheren Zeiten hinterher trauern, kann sie nicht verstehen. „Viele beharren auf dieser negativen Wahrnehmung. Aber man muss doch in der Gegenwart bleiben. Das Früher wird es nicht mehr geben.“

Hund Lilly muss dann unbedingt mit aufs Foto. Lilly, ein kleines Pelzbündelchen und bislang kaum von dem Flokatiteppich zu unterscheiden, kommt herbei und lässt die Prozedur geduldig über sich ergehen. „Nicht ohne meine Tochter!“, lacht Marianne Graff.

Text: Ulrike Steglich, Foto: Christoph Eckelt, bildmitte
zuerst erschienen in der „ecke turmstraße„, Nr. 7,  November/Dezember 2011

Nachtrag:
Hier wird über die von Marianne Graff spontan organisierte Spendenaktion für einen Teppich für die Spielecke in der Markthalle berichtet.

Ein Kommentar auf "„Man muss in der Gegenwart bleiben“"

  1. 1
    L.S. says:

    Danke für diesen schönen Artikel!

    Und danke auch für das poetische Lebensmotto: „Das Früher wird es nicht mehr geben.“

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